Sonntag, 28. Februar 2021

Laufglück oder Laufsucht? - Teil 3: Gesundheit und Glück spendende Sport-Medizin

Bewegung ist Medizin, die glücklich macht. - "Läufer sind glückliche Menschen!" (Jeff Galloway)
 
17.05.2003 Zieleinlauf Rennsteiglauf 73,2 km
Zieleinlauf nach 73,2 km, 8:02 Std.
Warum sind Gehen und Laufen menschliche Bewegungsarten? 
Was ist Sport? 
Was bedeutet Sport als Kulturmuster?
Ist Laufen gesund?
Macht Laufen glücklich? 
Kann Sport auch Sucht sein? 
Warum bewegen sich in westlichen Kulturen viele Menschen zu wenig?
 
Ein dreiteiliger Post der Artikelserie 30 Jahre Laufglück geht diesen Fragen aus Sicht von Wissenschaften und Alltagserfahrungen nach. 
Vorliegender Teil 3 widmet sich Zusammenhängen zwischen Bewegung, Gesundheit, Suchtpotentialen von Sport und betrachtet die Bedeutung sportlicher Aktivitäten für individuelle Lebensqualität.
 
 
Inhaltsübersicht Teil 3
 
1          Gesundheit, Krankheit, Sport
1.1       Definition Gesundheit und Krankheit
1.2       Krank durch Bewegungsmangel - Sitzen ist das neue Rauchen
1.3       Laufen hilft gegen alles - gesundheitliche Prävention und Heilung durch Bewegung
1.3.1    Kurzfristige Benefits
1.3.2    Mittelfristige Benefits
1.3.2.1 Rheuma braucht Bewegung
1.3.2.2 Sport in der Onkologie und speziell bei Brustkrebs
1.3.3    Langfristige Benefits
2          Kann Sport auch Sucht sein? - Was ist Sucht?
2.1       Sucht, Abhängigkeit, Zwangsverhalten
2.2       Sucht und Sportsucht im Kontext von Alltagsdenken
2.3       Sucht aus wissenschaftlicher Sicht
2.3.1    Sucht aus Sicht von Psychologie und Pädagogik
2.3.2    Sucht aus Sicht von Medizin
2.3.3    Sucht als Lernprozess aus Sicht von Neurobiologie
2.4       Laufglück oder Laufsucht?
2.4.1    Individuelle Nutzenpotentiale aktiver sportlicher Betätigung
2.4.2    Sport als Suchtverhalten
3          Sport und Lebensqualität
 
 
1 Sport, Gesundheit, Krankheit, Lebensqualität
 
In den 1960er Jahren kam in den USA ein breite Laufbewegung auf und schwappte in den 1970er Jahren nach Europa. In der Gegenwart geben 5,22 Millionen Deutsche an, mehrmals in der Woche zu joggen. 16,87 Millionen Deutsche joggen gemäß eigener Auskunft ab und zu (Statista: Umfrage in Deutschland zur Häufigkeit des Joggens in der Freizeit 2016 – 2020). Für einen hohen Anteil der Bevölkerung ist jedoch ausdauernde Bewegung mit eigener körperlicher Anstrengung eher unattraktiv. Menschen, die körperliche Anstrengungen und erst recht Ausdauersport vermeiden, verdächtigen mitunter ausdauernden Sport als Symptom von Sucht- bzw. Zwangsverhalten. Fragen nach der Bedeutung von Sport für die Gesundheit, Annahmen von Sport als Suchtverhalten und der Bedeutung von Sport für die individuelle Lebensqualität geht dieser Teil 3 der Artikelserie nach.
 
 
1.1 Definition Gesundheit und Krankheit
 
Hinsichtlich Definitionen von Gesundheit und Krankheit sei auf Einträge in Wikipedia verwiesen: Gesundheit - Krankheit
 
 
1.2 Krank durch Bewegungsmangel - Sitzen ist das neue Rauchen
 
Lt. einer Studie der Weltgesundheitsorganisation (WHO) bewegen sich weltweit 1,4 Milliarden Menschen so wenig, dass sich dadurch ihr Risiko für Herzkreislauf-Krankheiten, Typ-2-Diabetes und verschiedene Krebsarten erhöht. Mit einem Anteil von 42,2 % Menschen mit Bewegungsmangel belegt Deutschland einen Spitzenplatz unter allen Industrieländern.(1) 45 % der erwachsenen Deutschen treiben keinen Sport und nur ca. 13 % aller Deutschen erreichen WHO-Empfehlungen eines ausreichenden körperlichen Aktivitätsniveaus.(2,3) Erwachsenen von 18 bis 64 Jahren wird empfohlen, auch denjenigen mit chronischen Erkrankungen oder Behinderungen, pro Woche mindestens 150 bis 300 Minuten moderat bis intensiv aerob aktiv zu sein, wobei mehr immer besser ist. Ab einem Alter von 65 Jahren sollten an mindestens 3 Tagen der Woche Aktivitäten praktiziert werden, die den Fokus auf Gleichgewicht, Koordination und Stärkung der Muskelkraft legen.(4)
 
Bewegungsmangel erhöht Risiken für Herzinfarkte, Schlaganfälle, Depressionen sowie für 13 verschiedene Krebsarten und ist verantwortlich für ca. 10 % der weltweiten Brust- und Darmkrebsfälle, 7% der Erkrankungen an Typ-2-Diabetes sowie 6 % der Herz-Kreislauferkrankungen. Bewegungsmangel verkürzt die statistische Lebenserwartung von Männern um ca. 6 Monate und von Frauen um 18 Monate. 7 % aller Todesfälle werden in Deutschland auf Bewegungsmangel zurückgeführt.(5) Bei Übergewicht (Adipositas) wächst der Verlust an Lebensjahren auf mehr als 7 Jahre! Umgekehrt profitiert von regelmäßigem Ausdauersport die statistische Lebenserwartung je nach Sportart und Intensität um bis zu 8 Jahre bei gleichzeitig erhöhter Lebensqualität.(6) Neben Ernährungsfehlern und Rauchen ist Bewegungsmangel eine Hauptursache für Zivilisationskrankheiten und Risikofaktor für Alzheimer-Krankheit, Demenz und Depressionen. Sitzen ist das neue Rauchen und auch durch Sport am Abend nicht vollständig zu kompensieren, warnen aktuelle medizinische Studien.(7,8)  
 
Zusammenhänge zwischen dem Gehirn als Steuerungszentrale und der Muskulatur als Funktionsorgan erschließen sich erst allmählich. Das Gehirn schickt für die Ausführung von Bewegungen Befehle an Muskeln. Muskeln sind das größte Organ des Körpers und kommunizieren über Myokine (Botenstoffe von Muskelzellen) mit anderen Organen, um sie über Anforderungen zu informieren, die deren Beteiligung erfordern. Sport trainiert aber nicht nur Muskeln, sondern auch das Gehirn.(9)
 
Biologische Systeme sind Opportunisten, die sich ihren Anforderungen anpassen. Fehlende Impulse reduzieren Funktionen auf Stand-by-Betrieb, der eigentliche Nutzfunktionen erheblich und folgenreich reduziert. Ohne ausreichende Belastung verkümmert die Muskulatur, wodurch nicht nur der Stütz- und Bewegungsapparat Funktionsverluste erleidet, sondern auch etliche Organe. Im Ergebnis erfährt das biologische Gesamtsystem nachhaltige Störungen. Schonung schwächt! 
 
 
1.3 Laufen hilft gegen alles - gesundheitliche Prävention und Heilung durch Bewegung
 
Mediziner haben mittlerweile den gesundheitlichen Nutzen von Sport erkannt. Sie propagieren sportliche Aktivität als gesundheitliche Präventivmaßnahme und nutzen sportliche Aktivitäten als therapeutische Maßnahmen von Reha-Programmen. Das Spektrum der Heilkraft von Sport ist längst noch nicht vollständig bekannt. Mechanismen, die Sport im Körper auslöst, sind komplex und längst noch nicht vollständig verstanden. Generell gilt jedoch:(10)
 
„Jede körperliche Anstrengung (setzt) Kaskaden physiologischer Vorgänge in Gang. Das Herz pumpt schneller, die Körpertemperatur steigt, Dutzende von Botenstoffen strömen in Kopf und Glieder. Im Gehirn entstehen neue Nervenbahnen. Krankes Gewebe heilt, neue Zellen wachsen heran, und Erbsubstanz wird repariert.“
 
Bewegung ist nicht nur eine gegen viele Krankheiten helfende hocheffektive Therapie. Bewegung wirkt auch vorbeugend gegen die Entstehung vieler Krankheiten und verlangsamt Alterungsprozesse.(11,12) Eine 2005/2006 vom Universitätsklinikum Essen durchgeführte Marathonstudie ergab, dass ältere Marathonläufer (Alter > 50 Jahre) mit langjähriger Lauferfahrung hinsichtlich fast aller gemessenen medizinischen Parameter im Vergleich zum Durchschnitt der gleichaltrigen Normalbevölkerung ein um ca. 10 Jahre reduziertes biologisches Alter zeigen. Erhobene Werte fielen derart beeindruckend aus, dass Leiter und Begleiter des Projektes mit Laufsport begannen.(13) 

Ergebnisse aus dieser und ähnlichen Studien sind nicht konsolidiert. Bei einigen hochtrainierten Läufern wurden erhöhte Werte für Koronarkalk gefunden. Die Bedeutung dieser Funde ist nicht abschließend geklärt. Bewertungen werden kontrovers diskutiert. Koronarkalk ist nicht mit Koronarstenose gleichzusetzen. Wer regelmäßig Sport treibt, senkt das Risiko von Koronarstenosen, weil durch das Training koronare Kollateralen entstehen. Bestehende koronare Plaques (Ablagerungen in Herzkranzgefäßen) sind bei hochtrainierten Sportlern vermutlich als stabil und eher benigne einzuordnen.(14) Internist und Sportmediziner Dieter Kleinmann, selbst vielfacher Marathon- und Ultraläufer, erklärt in einem Referat über Auswirkungen von Lauftrainings auf Alterungsprozesse, dass Ausdauertraining auch bei Koronarerkrankungen lebensverlängernde Wirkung hat.(15) Weitere Sportmediziner und Kardiologen bestätigen diese Aussage oder bezweifeln, dass kurzzeitige Stressreaktionen des Herzmuskels langfristig negative Auswirkungen haben.(16)
 
Auswirkungen von Lauftraining auf Herz und Blutgefäße untersuchte eine jüngst durchgeführte Studie über 6 Monate mit Teilnehmern im Alter von 21 – 69 Jahren, die erstmals für einen Marathon trainierten. Lt. Studie sank das biologische Alter der Aorta von Teilnehmern im Laufe des Marathon-Trainings in 6 Monaten um durchschnittlich vier Jahre. Am stärksten war der Effekt bei älteren Teilnehmern, weil die Aorta mit zunehmendem Alter an Elastizität verliert. Lt. dieser Studie scheint der Einfluss des Gefäßeffektes auf die kardiovaskuläre Fitness jedoch eher gering zu sein.(17,18) Gültigkeit oder Reichweite dieser Aussage sind jedoch unsicher. Möglicherweise war die Dauer zu kurz oder die Intensität zu niedrig, um nachhaltige Effekte zu erzielen. 
 
Schleichende entzündliche Prozesse bewirken die Alterung von Blutgefäßen in Form von Artherosklerose, Auslöser für Schlaganfälle und Herzinfarkte. Welche Mechanismen Artherosklerose vorantreiben, ist bis heute noch nicht im Detail verstanden. Inwischen weiß man jedoch, dass sportliche Aktivität diesem Prozess entgegenwirkt, weil sportliche Aktivität entzündungshemmend wirkt, oft deutlich stärker, als das Medikamente vermögen, und so die Blutgefäße verjüngt. U.a. weist eine kürzlich im Wissenschaftsjournal Nature veröffentlichte Studie nach, dass Ausdauersport altersbedingte Hirnentzündungen lindert.(19) 

Mit Verweis auf mehrere wissenschaftliche Studien wirbt ein Artikel der Wochenzeitung ZEIT unter der Überschrift Laufen hilft gegen alles für dieses Wundermittel, das
  • die Lebensqualität aufgrund verbesserter körperlicher und mentaler Fitness erhöht,
  • die Lebenserwartung signifikant verlängert, 
  • frei von schädlichen oder gefährlichen Nebenwirkungen ist,
  • ohne oder mit nur geringem Geldeinsatz von jedem selbst herstellbar ist.(20)
Kostenlos ist das Wundermittel nicht zu erhalten. Es verlangt Entscheidungen zugunsten eines Lebensstils mit regelmäßiger sportlicher Eigenaktivität in ausreichender Dauer und Intensität. Vorteile und verschiedene Arten des Nutzens von Ausdauersport entwickeln sich bei kontinuierlichem Training nicht zeitlich synchron, sondern werden als Belohnung für Bemühungen über unterschiedlich lange Zeiträume verdient. Wie sich Benefits des Ausdauertrainings über Zeithorizonte verteilen, betrachten nachfolgende Unterkapitel.
 
 
1.3.1 Kurzfristige Benefits
 
Einzelne Trainingseinheiten können durchaus belohnend sein. Dafür sorgen bereits belohnende Gefühle vermittelnde Stoffwechselprozesse (siehe Teil 1, Kapitel 5). Zur Belohnung tragen Naturerlebnisse, attraktive Landschaften, eigene Körperwahrnehmung, Leistungssteigerungen und positive soziale Kontakte bei. Überwiegend sind jedoch einzelne Aktivitäten aus variierenden Gründen von starker Unlust begleitet. Wer systematisch trainiert, muss bereit sein, auf sofort und anstrengungslos zu erhaltende kleine Belohnungen zu verzichten bzw. Impulse, kurzfristige Freuden, Erfolge, Zerstreuung zu kontrollieren. Die Unterdrückung spontaner Belohnungen zugunsten aufgeschobener Gratifikationen dank Impulskontrolle erfordert ausdauernde Motivation, die erst in der Zukunft zu größeren Belohnungen verhilft.
 
Überwindung spontaner Unlust gelingt nur mit mentaler Stärke. Die Selbsterfahrung dieser Stärke wirkt bereits kurzfristig belohnend, weil sie Selbstbestimmung und Kontrolle über das eigene Leben vermittelt. Selbstbestimmung und Kontrolle sind keine absoluten Empfindungen, sondern werden als Kontrast zu alltäglichen Belastungen und negativen Emotionen wahrgenommen, unter denen sich das eigene Leben als fremdbestimmt und gestresst anfühlt. Sportliche Aktivitäten verhelfen zur Bewältigung derartiger Emotionen. Wenn Unlust überwunden ist und Anstrengungen nachlassen, breiten sich Empfindungen innerer Ruhe, Ausgeglichenheit und Zufriedenheit aus. Sport macht den Kopf frei, verbessert Denk- und Konzentrationsleistungen sowie Erinnerungs- und Lernfähigkeiten.(21,22) Zusätzlich profitiert die Erholsamkeit des eigenen Schlafs. 
 
"Es gibt nichts Besseres als Sport" ist ein in der FAZ vom 15.04.2022 veröffentlichtes Interview mit der Neurowissenschaftlerin Friederike Fabritius überschrieben, in dem sie für Laien beschreibt, wie Sport Einfluss auf neurologische Prozesses ausübt. Sport "fördert unsere Laune, macht uns leistungsfähiger – auch im Denken – , macht uns mental flexibler, schlauer, lernfähiger. Durch Sport wird auch die Sauerstoffversorgung im Gehirn optimiert. Sport stärkt deshalb nicht nur den Körper, sondern auch das Gehirn. (...) Es gibt nichts Besseres, was man für sein Gehirn machen kann, als Sport." 
Ein weiterer Artikel der FAZ vom 16.04.2022 erklärt: "Darum ist Laufen für Menschen so wichtig"
 
 
1.3.2 Mittelfristige Benefits von Laufen und Ausdauersport

An der Uniklinik Ulm durchgeführte Studien bestätigen, dass bereits sechs Wochen intensives Lauftraining deutliche Verbesserungen in exekutiven Funktionen des „visuell-räumlichen Gedächtnisses“ und der „Konzentrationsfähigkeit“ sowie „positive Stimmung“ bewirken.(23,24,25)
 
In Jahresfrist erreichbare mittelfristige Belohnung variieren mit persönlichen Zielen, z.B.:
  • Teilnahme an Wettkämpfen oder/und Erreichen von Erfolgszielen in Wettkämpfen
  • Verbesserung von Fitness, Ausdauer und Belastbarkeit
  • Erhöhung des Leistungsniveaus in anderen Sportarten
  • Bewältigung besonderer sportlicher Highlights, z.B. anspruchsvolle Wanderungen, Bergtouren, Gipfeltouren
  • Reduzierung oder Kontrolle des eigenen Körpergewichts
Randomisierte Studien weisen bereits nach ca. 6 Monaten Ausdauertraining Effekte nach, die medizinisch als Indikatoren einer verlängerten Lebenserwartung gedeutet werden.(26) Unsicher ist jedoch bisher, wie lange Personen von Trainingseffekten profitieren, wenn sie ihr Training einstellen. Über nur mit wissenschaftlichen Methoden nachzuweisende Effekt hinaus, profitieren körperliche und mentale Fitness spürbar in der Selbstwahrnehmung. Indem Ausdauersportler sich individuell wertvolle Leistungsziele setzen, die erst in der Zukunft erreichbar sind und diese Ziele mit eigenen Fähigkeiten erarbeiten, entwickeln sie neben ihrer körperlichen Fitness die eigene Persönlichkeit verändernde Soft-Skills der Impulskontrolle, Selbstregulation, Selbstmotivation und Resilienz sowie des Gratifikationsaufschubs. Im Ergebnis findet eine selbst initiierte und kontrollierte Persönlichkeitsentwicklung statt.  
 
 
1.3.2.1 Rheuma braucht Bewegung
 
Anhaltende systemische Entzündungen, wie sie bei entzündlich-rheumatischer Erkrankungen auftreten, sind mit einem hohen kardiovaskulären Risiko verbunden und prädisponieren für Stoffwechselstörungen und Muskelschwund. Diese Störungen können zu Behinderungen und verminderter körperlicher Aktivität führen, Entzündungen verschlimmern und ein Netzwerk chronischer Krankheiten entwickeln, durch das ein „Teufelskreis“ chronischer Entzündungen entsteht. 
 
Seit mehr als 10 Jahren werden sportliche Aktivitäten als anti-entzündliche Therapie bei rheumatischen Erkrankungen erforscht und diskutiert. Inzwischen wurde entdeckt, dass Skelettmuskeln mittels Myokine (Botenstoffe von Muskelzellen) in komplexen Prozessen mit anderen Organen kommunizieren. Von Myokinen wird angenommen, dass sie bei jeder Trainingseinheit entzündungshemmende Reaktionen provozieren und langfristige belastungsinduzierte Verbesserungen der kardiovaskulären Risikofaktoren vermitteln, die eine indirekte entzündungshemmende Wirkung haben.(27) Im Gegensatz zu verbreiteten Befürchtungen, dass körperliche Aktivität Entzündungsprozesse verschlimmern könnte, wird Bewegung nicht nur für Patienten mit rheumatischen Erkrankungen zur Medizin.
 
Starke Argumente für die präventive und heilende Wirkung von Sport bieten die drei nachfolgenden Übersichts-Artikel:
Bis aus Hypothesen und Theorien gesichertes Wissen entsteht und dieses in Therapien eingeht, sind über etliche Jahre wissenschaftliche Forschungsarbeit sowie Ausbildung zu leisten. Die axiale Spondyloarthritis, eine rheumatische Erkrankung der Wirbelsäule, ist medikamentös nur schwer zu beeinflussen. Entzündungsprozesse regulierende „Basistherapien“ stehen nicht zur Verfügung.(28) Hinsichtlich hochintensivem Training agiert die Rheumatologie bisher zurückhaltend, weil negative Auswirkungen auf den Krankheitsverlauf befürchtet werden.
 
Aufsehen erregte eine zunächst im British Journal of Sports Medicine 2019 veröffentlichte Studie, die 2020 überarbeitet in der Fachzeitschrift Physical Therapy erschien.(29,30) Die Studie weist für eine Interventionsgruppe nach, dass hoch intensives sportliches Training im Vergleich zu einer Kontrollgruppe zu geringeren Schmerzen, besserem Schlaf und verbessertem Wohlbefinden führt. Entzündungsparameter im Blut waren signifikant niedriger als in der Kontrollgruppe. Nebenwirkungsreiche Schmerzmittel konnten deutlich reduziert werden, u.a. TNF-alpha-Blocker. Diese Studie ist nicht weniger als revolutionär, weil sie das dominante medizinische Paradigma verlässt und neue Wege aufzeigt. Ergebnisse der Studie stellen mehrere deutsche Fachzeitschriften/Portale einem Laienpublikum vor.(31) Angemessenes hochintensives Training (HIT) schadet Rheumatikern offensichtlich nicht. Die Studie klärt jedoch nicht, welche Schwellenwerte für Intensität und Umfang erreicht werden müssen, um die beschriebenen positive Effekte zu bewirken. Mit guten Gründen kann angenommen werden, dass aufgezeigte Zusammenhänge nicht nur für die axiale Spondyloarthritis von Bedeutung sind, sondern auch für andere Arten entzündlicher Erkrankungen. 
 
HIT verlangt eine solide Basis und ist ohne ausreichende Erfahrung oder fachliche Anleitung nicht völlig ungefährlich.(32) Wie weit individuell geeignetes moderates und/oder intensives Training in ausreichender Dosierung zu ähnlichen Effekten führt, ist noch zu ermitteln. Ca. 1,5 Milionen allein in Deutschland an entzündlichen rheumatischen Erkrankungen leidende Menschen(33) liegen auf jeden Fall richtig, wenn sie der Empfehlung der Deutschen Rheuma-Liga folgen: Rheuma braucht Bewegung ... regelmäßig und kontinuierlich! Das American College of Sports Medicine (ACSM) empfiehlt) für Patienten mit entzündlich-rheumatischen Gelenkerkrankungen dreimal pro Woche individuell angepassten Sport für jeweils 30 bis 60 Minuten Dauer, wobei diese Angaben nicht als Optimum, sondern eher als Minimum zu werten sind:
  • Fahrradfahren – (60 bis 80 Prozent Herzfrequenz)
  • Walking – (30 bis 60 Minuten pro Einheit)
  • Schwimmen – (an drei bis fünf Tagen pro Woche)
  • Tanzen
Zusätzlich sollen leichtes Hanteltraining (acht bis zehn freie Übungen für die großen Muskelgruppen, acht bis zwölf Übungen an Kraftmaschinen) den Muskelaufbau sowie Dehnübungen die Beweglichkeit von Bändern und Gelenken fördern.
 
 
1.3.2.2 Sport in der Onkologie und speziell bei Brustkrebs
 
In der Onkologie wird neben medizinischer Behandlung seit mindestens 20 Jahren Sport „supportiv“ therapeutisch angeboten (UCCSH: Bewegungs- und Sporttherapie) und zählt insbesondere in der Brustkrebs-Reha zu verbreiteten komplementär-medizinischen Standards. 
Aussagen des Cancer Center (UCCSH) im Universitätsklinikum Schleswig-Holstein: Bewegung, Sport und Entspannung:

Die meisten Menschen wissen, dass körperliche Aktivität gut für die Gesundheit ist, aber für Krebsüberlebende ist Sport und körperliche Aktivität noch bedeutsamer. Sport und Bewegung sind gut für das Immunsystem und für die Psyche. So kann Sport das Wohlbefinden steigern, die Therapieverträglichkeit unterstützen, als auch die Spätfolgen der Krebserkrankung durch regelmäßige körperliche Aktivität regulieren.

Körperliche Aktivität wirkt sich auch positiv auf die Stressresistenz aus. Zudem werden körpereigene Botenstoffe wie beispielsweise Endorphin und Adrenalin ausgeschüttet, die eine stimmungssteigernde Wirkung haben. Bewegung führt zu positiven Gedanken und einem stärkeren Selbstwertgefühl. Ebenso beugt sie psychischen Erkrankungen wie Burnout, Depressionen und Angststörungen vor und trägt zu einer Verbesserung der Schlafqualität bei.
 
Weitere Vorteile von körperlicher Aktivität:
  • Verbessert physische Fitness, Kraft, Beweglichkeit, und Gleichgewicht,
  • vermindert das Risiko chronischer Erkrankungen wie Diabetes, Herz-Kreislauf-Erkrankungen, Bluthochdruck oder weiterer Krebserkrankungen.,
  • reduziert das Risiko für Übergewicht und Adipositas und hilft Menschen ein gesundes Gewicht zu halten,
  • unterstützt die Knochengesundheit
,
  • verbessert die mentale Gesundheit und reduziert das Risiko von Depressionen und Angststörungen,
  • verbessert kognitive Funktionen,
  • steigert das Selbstbewusstsein
,
  • bietet Möglichkeiten für sozialen Austausch/Interaktionen.
Some activity is better than no activity!
 
Diese Empfehlungen vermeiden Aussagen über Intensität und Umfang sportlicher Aktivitäten. Mutiger ist die Weltgesundheitsorganisation (WHO). Sie "rät zu mindestens 150 bis 300 Minuten moderater oder 75 bis 150 Minuten intensiver körperlicher Aktivität pro Woche beziehungsweise zu einer Mischung aus beidem. Gerne können Sie sich auch mehr bewegen, am besten täglich." Neben diesem auf Ausdauer bezogenem Training empfiehlt der Präventionsratgeber der Deutschen Krebshilfe für ältere Erwachsene zusätzlich 2 x pro Woche muskelkräftigende Aktivitäten sowie ab dem Alter von 65 Jahren 3 x pro Woche Gleichgewichtstraining.(34) Für alle Altersgruppen gilt: Über diese Empfehlungen hinausgehende Bewegung hat zusätzliche positive gesundheitliche Auswirkungen.
 
WHO-Empfehlungen adressieren alle Menschen, nicht nur Krebspatienten. Zur schützenden Wirkung sportlicher Bewegung nennt das Deutsche Krebsforschungszentrums (DKFZ) Zahlen, denen ca. 500.000 neue Tumore pro Jahr das ihnen gebührende Gewicht verleiht.(35,36,37)
  • Sport senkt das Risiko für 13 verschiedene Krebsarten.
  • Es wird (...) angenommen, dass sich in Europa ca. 14% alle Krebsfälle bei Männern und 16% bei den Frauen auf körperliche Inaktivität zurückführen lassen.
    (Andere Artikel zitieren Schätzungen, gemäß denen ca. 6 % aller Krebsfälle in Deutschland auf Bewegungsmangel zurückzuführen sind.(38) Da Inaktivität mit anderen Risiken korreliert (Übergewicht, Ernährungsfehler, Rauchen, Alkohol) sind die Isolierung und Bewertung empirischer Risikodaten bestimmter Verhaltensweisen schwierig.) 
  • Aktuell wird die potentielle Risikoreduktion durch erhöhte Aktivität zwischen 20% und 30% (je nach Tumorart) angeben. 
Sport ist in der onkologischen Rehabilitation eine anerkannte Komponente, die Folgen von Inaktivität entgegenwirkt, den psychischen Zustand verbessert, das Immunsystem stärkt und Erschöpfungszustände (Fatigue) bessert. Hinsichtlich Dauer und Intensität werden bislang eher bescheidene Größenordnungen propagiert. Komplementär-medizinische Empfehlungen sehen niedrige individuelle Dosierung mit 3 Aktivitäten pro Woche von jeweils ca. 30 Minuten Dauer vor.(39) (Hoch-) intensives Training wird gemäß traditionellen medizinischen Paradigmen nicht in Erwägung gezogen.
 
Ein anderes und teilweise abweichendes Bild vermittelt eine neuere Brustkrebsstudie, die aufzeigt, dass ältere Brustkrebspatientinnen, deren Krebs keine Metastasen bildet, nicht am Brustkrebs, sondern in signifikanter Häufigkeit an Herz-Kreislauf-Erkrankungen als Folge kardiotoxischer schulmedizinischer Therapien sterben.(40,41) An der Studie nahmen 2973 Frauen mit nicht metastasiertem Mammakarzinom in einem medialen Alter von 57 Jahren und in einem medialen Beobachtungszeitraum über 8,6 Jahre teil. Studiendaten belegen, dass mehr körperliche Aktivität von Vorteil ist: Frauen, die mindestens 9 MET-Stunden pro Woche erreichten, hatten im Vergleich zu Frauen, die das nicht schafften, ein um 23 % reduziertes Risiko für kardiovaskuläre Ereignisse.(42) Dabei war der Nutzen von Bewegung und Sport unabhängig von Alter, kardiovaskulärem Risikoprofil, Menopausenstatus und Art der Krebstherapie. Lediglich Frauen mit einem BMI > 35 hatten keinen Nutzen. Außerdem zeigte sich ein „Dosiseffekt“. Mehr Bewegung korrelierte mit mehr Vorteilen, so dass die Autoren der Studie empfehlen, mindestens auf 9 MET-h/Woche zu kommen und wenn möglich über Minimal-Empfehlungen hinauszugehen, um die Schutzwirkung zu erhöhen.

Fazit: Eigene sportliche Aktivität ist Medizin ohne Risiken, und intensiver Sport ist intensive Medizin.(43) Diese Medizin beschützt nicht nur das Herz von Brustkrebs-Patientinnen, sondern entfaltet ein allen Menschen dienendes breites Nutzenspektrum. Die Evidenz dieses Sachverhalts motiviert zu der von 12 deutschen Bundesländern unterstützten Initiative "Rezept für Bewegung".(44) 

Zwischen der Idee des "Rezeptes für Bewegung" und der Realität liegen jedoch Welten. Abgesehen von Sportverletzungen sowie von Reha-Einrichtungen, in denen sportliche Aktivitäten zum Standardprogramm zählen, müssen wir uns im praktischen medizinischen Alltag das "Rezept für Bewegung" selbst ausstellen, um dessen Nutzen zu realisieren. Aufgrund rationaler wirtschaftlicher Erwägungen ist Sport keine relevante Maßnahme des medizinischen Leistungskatalogs, obwohl Nutzen von Sport als Präventionen und als Medizin gegen viele Erkrankungen Medizinern selbstverständlich bekannt ist. In der medizinischen Praxis kann Sport jedoch als Prävention oder als Medizin nicht oder nur sehr gering als Leistung abgerechnet werden und wird daher bestenfalls empfohlen, aber nicht verordnet. Für Gesundheit erhalten Mediziner kein Honorar. Im Gegenteil schaden Prävention und Selbsthilfe dem auf Erkrankungen basierendem medizinischen Geschäftsmodell, in dem im Jahr 2019 durchschnittlich 4.944 € pro Einwohner umgesetzt wurden, die sich laut Statistischem Bundesamt auf 11,9 % des Bruttoinlandsproduktes bzw. 411 Mrd. € summieren.(45) Allerdings beträgt der Anteil der Ausgaben für Prävention in Deutschland mit abnehmender Tendenz nur 3 % - 4 % der Gesundheitsausgaben (vor allem für Impfungen, Beratungen und Aufklärungen).(46) In anderen europäischen Ländern sind es immerhin mehr als 10 %.(47)
 
 
1.3.3 Langfristige Benefits von Laufen und Ausdauersport

Muskulatur verfügt über eine hohe Anpassungsfähigkeit an Belastungsanforderungen und kann mit systematischem Training relativ schnell in überschaubaren Zeiträumen mehrerer Wochen auf ein erheblich höheres Leistungsniveau entwickelt werden. Abgebaut wird Muskulatur jedoch schnell, wenn Belastungsreize fehlen. Andere anatomische Strukturen und Organe verfügen über eine geringere Plastizität und benötigen deutlich mehr Zeit, um sich an ein höheres Belastungsniveau anzupassen. Besonders wertvolle positive gesundheitliche Effekte stellen sich daher erst langfristig ein. 

Ausdauersport stärkt die körperliche Fitness hinsichtlich Belastbarkeit, Kraft, Beweglichkeit, verlangsamt Alterungsprozesse und erhöht die statistische Lebenserwartung. Ausdauersport verhindert zahlreiche Erkrankungen, bietet aber keinen absoluten Schutz gegen Erkrankungen. Ausdauertrainierte Erkrankte profitieren jedoch von Leistungsreserven, von ihrem trainierten Immunsystem und von ihrer mentalen Fitness.

Indem Ausdauersport über biologische Aspekte hinaus mentale Fitness verbessert, trägt er zur Bewältigung von Herausforderungen bei, denen Menschen über die gesamte Lebensspanne immer wieder ausgesetzt sind. Sport verhilft zu Erfahrungen der Wiederholbarkeit und Regelmäßigkeit positiver Emotionen und macht bewusst, dass wir uns selbst helfen und Belohnungen verschaffen können, die sich ohne sportliche Aktivitäten nicht oder nur deutlich schwächer einstellen würden. Wir erkennen, dass Anstrengungen jeden Erfolg aufwerten und Erfolg ohne Anstrengung weniger Wert hat. Die Selbsterfahrung mentaler Stärke formt die Persönlichkeit und trainiert Resilienz (siehe Kapitel 2.2.4). Dank regelmäßigem Ausdauersport verbessern Menschen Fähigkeiten, die sich positiv auf persönliche Lebensqualität auswirken. Erfahrungen selbstbestimmter Lebensgestaltung und erfolgreicher Bewältigung von Anforderungen des Lebens empfinden wir als Lebenszufriedenheit fördernde Lebensqualität.
 
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  1. Ärztezeitung: Deutsche werden immer mehr zu Bewegungsmuffeln
  2. Wikipedia: Bewegungsmangel
  3. Robert Koch Institut: Bundes-Gesundheitssurvey: Körperliche Aktivität
  4. Deutsches Ärzteblatt, 26.11.2020: WHO gibt neue Aktivitätsempfehlungen heraus – „für die Gesundheit zählt jede Bewegung“
  5. Deutsches Krebsforschungszentrum: Gesundheitliche Folgen von Bewegungsmangel
  6. Deutsches Ärzteblatt 45/2017: Der Nutzen überwiegt (PDF)
  7. FAZ: Alarmierende Studie zum Sitzen
  8. Tagesspiegel: Sitzen ist das neue Rauchen
  9. NDR: Training produziert heilsame Myokine (siehe auch Anmerkung 27)
  10. ZEIT: Wundermittel Bewegung
  11. Einen guten Überblick über Zusammenhänge zwischen Gesundheit und Sport, ergänzt um Hinweise zu Trainingsmethoden und zur Ausrüstung, bietet das Kompendium gesundes Laufen, Walking & Nordic Walking des Sportwissenschaftlers Ingo Froböse, Leiter des Zentrums für Gesundheit durch Sport und Bewegung an der Deutschen Sporthochschule Köln: Running & Health (PDF)
  12. Weitere Quellen zum Thema gesundheitliche Prävention durch Sport
  13. Post: Marathonstudie – ist Laufen schädlich?
  14. Medical Tribune: Vermehrte Koronarverkalkung kann Extremsportlern nichts anhaben Ärztezeitung: Sportlich Aktive- Koronarkalk wohl kein Grund zur Sorge
  15. German Road Races, Dieter Kleinmann: Mit 70 noch spitze. Auswirkungen eines Lauftrainings auf das Altern: „Langläufer leben länger, auch Marathonläufer! Die Beweislage ist mittlerweile eindeutig und eindrucksvoll, selbst wenn immer wieder über Todesfälle, Troponinerhöhung als Zeichen einer Herzschädigung, echokardiographische Herzermüdungszeichen nach Marathon oder gehäuft verkalkte Herzkranzarterien bei Marathonläufern berichtet wird. 
Entscheidend ist immer der statistische Endpunkt „Tod“. Dieser tritt in vielen Studien nachgewiesen bei Ausdauertrainierten selbst bei Koronarkranken im Durchschnitt später ein als bei körperlich Inaktiven, Troponinerhöhung oder Koronarkalk hin oder her!"
  16. Artikel zur koronaren Stressbelastung bei Marathonläufen:
  17. Kardiologie.org: Der erste Marathonlauf im Leben … ein Jungbrunnen für die Gefäße
  18. Kardiologie.org: Marathon: Ein Jungbrunnen für die Blutgefäße?
  19. FAZ: Alte Adern sind kein Schicksal
    Nature: ‘Inflammation clock’ can reveal body’s biological age
  20. ZEIT: Laufen hilft gegen alles
  21. Quarks: So trainiert Sport das Gehirn
  22. Portal Das Gehirn: Was Sport im Gehirn bewirkt
  23. Siehe Teil 1, Kapitel 5.1 Exekutive Funktionen (Kontrollprozesse)
  24. FAZ: Laufen macht schlau und verbessert die Stimmung
  25. Dissertation am Universitätsklinikum Ulm 2009: Sanna Stroth: Einfluss eines Ausdauerlauftrainings auf exekutive Funktionen und deren hirnelektrische Korrelate unter Berücksichtigung eines genetischen Polymorphismus (PDF)
  26. Kardiologie.org: Sport hält jung. Ausdauertraining aber anscheinend mehr als Krafttraining
  27. Einer der am häufigsten zitierten Artikel zu diesem Thema veröffentlichten Fabiana B. Benatti und Bente K. Pedersen 2014 in nature reviews rheumatology: Exercise as an anti-inflammatory therapy for rheumatic diseases—myokine regulationals (PDF)  
  28. Deutsche Gesellschaft für Rheumatologie: Leitlinie Axiale Spondyloarthritis inklusive Morbus Bechterew und Frühformen (PDF)
  29. British Journal of Sports Medicine: High intensity exercise for 3 months reduces disease activity in axial spondyloarthritis (axSpA): a multicentre randomised trial of 100 patients
  30. Physical Therapy, Volume 100, Issue 8, Pages 1323–1332: High-Intensity Exercise Improves Fatigue, Sleep, and Mood in Patients With Axial Spondyloarthritis: Secondary Analysis of a Randomized Controlled Trial
  31. Veröffentlichungen für ein Laienpublikum:
  32. Apotheken-Umschau: Hochinensives Training HIT  
  33. Deutsche Gesellschaft für Rheumatologie: Rheuma in Zahlen
  34. Zitat aus dem lesenswerten Präventionsratgeber Schritt für Schritt der Deutschen Krebshilfe, S. 7f.
  35. Deutsches Krebsforschungszentrum: Bewegung, Sport und Krebs
  36. Deutsches Krebsforschungszentrum: Krebsrisikofaktor Bewegungsmangel 
  37. Robert Koch Institut, Zentrum für Krebsregisterdaten: Krebs gesamt
  38. Deutsches Krebsforschungszentrum: Sport und Bewegung zur Krebsvorbeugung
  39. Thieme: Naturheilverfahren, Komplementäre Onkologie - Krebs: Kriterien für Sport
  40. Die Deutsche Zeitschrift für Onkologie berichtet in der Ausgabe 4/2018 über die Studie:  Circulation Volume 137, Issue 8, 20 February 2018; Pages e30-e66: Cardiovascular Disease and Breast Cancer: Where These Entities Intersect: A Scientific Statement From the American Heart Association - Originalstudie: Jones LW, Habel LA, Weltzien E et al.: Exercise and risk of cardiovascular events in women with nonmetastatic breast cancer. J Clin Oncol 2016; 34: 2743–2749). 
  41. Ergebnisse dieser Studie fasst ein Artikel der Deutschen Zeitschrift für Onkologie 4/2018 in der Sektion Komplementäre Onkologie zusammen und versieht sie mit Kommentaren der gemeinnützigen Gesellschaft für Biologische Krebsabwehr e.V. (GfBK): Brustkrebs: Sport beschützt das Herz
  42. Die Abkürzung MET steht für metabolisches Äquivalent (engl. metabolic equivalent of task) und wird verwendet, um den Energieverbrauch eines Menschen bei verschiedenen Aktivitäten vergleichbar zu machen. Mit welcher Intensität Energie verstoffwechselt wird, sagt MET nicht aus. 9 MET-Stunden pro Woche entsprechen 3–5 Einheiten mit mittlerer bis hoher Trainingsintensität von mindestens 20-minütiger Dauer. Wichtig ist die Erkenntnis des „Dosiseffektes“. Entgegen der verbreiteten Befürchtung von Schäden durch vermeintlich übertriebenen Sport verhält es sich in der Realität umgekehrt: mit gesteigerter Dosis nimmt das Risiko ab bzw. die schützende Wirkung zu! Ob und ggf. welchen Einfluss die Intensität sportlicher Aktivitäten ausübt, ist eine sicherlich interessante Frage, die zunächst unbeantwortet bleibt. 
  43. Bayerisches Ärzteblatt: Bewegung ist Medizin (PDF)
  44. Deutscher Olympischer Sportbund (DOSB): Das Rezept für Bewegung
  45. Statistisches Bundesamt: Gesundheitsausgaben
  46. Statistisches Bundesamt: Statistisches Jahrbuch 2019 (PDF), Kapitel 4.3, Seite 150  
  47. Aufgrund der Covid-19-Pandemie ist der Anteil von Ausgaben für Prävention in den beiden vergangenen Jahren vermutlich größer. Statistische Daten liegen noch nicht vor.
 
2 Kann Sport auch Sucht sein? - Was ist Sucht?

Der überwiegende Teil aller Menschen liebt Bequemlichkeit und scheut eher vermeidbare Anstrengungen.(1) Andererseits sind viel Menschen sportbegeistert. Allerdings begnügt sich individuelle Sportbegeisterung oft mit passivem Sportkonsum als Unterhaltungsprogramm oder mit aktiven Sportarten, die keine (z.B. E-Sport) oder nur geringe bis moderate körperliche Anstrengungen erfordern (z.B. Wandern, E-Biking). Wer dagegen in der Freizeit regelmäßig körperlich anstrengenden Sport betreibt, gerät in den Verdacht pathologischer Verhaltensweise. Ob ‚normales Verhalten‘ als besser, richtiger, gesunder zu rechtfertigen oder im Gegenteil von Nachteil ist, bleibt i.d.R. ausgeblendet. Der Post geht diesen Fragen nach. 
 
 
2.1 Sucht, Abhängigkeit, Zwangsverhalten

Der Begriff Sucht ist unscharf und nicht exakt definierbar. Etymologisch wird der Begriff Sucht auf Siechen bzw. Siechtum im Sinne von Krankheit zurückgeführt. Historisch und teilweise bis heute bezeichnet der Begriff Sucht (ähnlich wie Morbus) einen Zustand der Erkrankung, z.B. Schwindsucht, Fallsucht, Wassersucht, Gelbsucht, Fettsucht, Magersucht etc..
 
Alltagsdenken und Wissenschaften haben unterschiedliche Verständnisse von Sucht. Aber auch innerhalb von Wissenschaften bestehen je nach Perspektive verschiedene Erklärungen von Sucht. Keines der Modelle macht Aussagen über die Stärke von Kriterien. Unschärfen von Krankheitsbegriffen hat bereits Paracelsus (1491 – 1553) erkannt: "alle ding sind gifft unnd nichts ohne gifft / allein die dosis macht das ein ding kein gifft ist."(2,3)  

Die wissenschaftliche Diskussion unterscheidet Abhängigkeit, Sucht und Zwangsstörungen:
  • Unter Abhängigkeit wird ein Ungleichgewicht neurobiologischer Funktionen aufgrund regelmässigen Substanzkonsums verstanden, die einen Drang zur Fortsetzung des Konsums erzeugen, um negative Folgen eines Konsumstopps zu vermeiden.
  • „Sucht bezeichnet den Prozess, mit welchem ein Verhaltensmuster, das anfänglich ein Wohlbefinden verschaffen oder ein Unbehagen lindern soll, unkontrolliert und trotz des Wissens um die nachteiligen Folgen fortgesetzt wird (Goodman, 1990).“ - „Sucht entsteht, wenn willentliche Verhaltensweisen in automatisierte und zwanghafte Verhaltensschemata abgleiten.“(4)
  • Zwangsstörungen ist ein Begriff der Psychologie für pathologische Verhaltensmuster, die im Zusammenwirken von genetischen Veranlagungen mit erworbenen (erlernten) Persönlichkeitsstrukturen entstehen und nicht als ‚Sucht‘ verstanden werden.(5) Bezüglich Zwangsstörungen unterscheidet die Psychologie zwischen
    • Verhaltensweisen gegen eigenen Willen, die als belastende Zwangshandlungen bzw. als „ich-dyston“ empfunden werden (nicht zur eigenen Persönlichkeit gehörend)
    • sowie zwanghaften Persönlichkeitsstörungen eines Strebens nach nicht zu realisierender eigener Vollkommenheit, dessen Zwanghaftigkeit als integraler Bestandteil der eigenen Person empfunden wird („ich-synton“), und das unlösbare Konflikte des eigenen Verhaltens und zwischenmenschlicher Beziehungen provoziert.
 
2.2 Sucht und Sportsucht im Kontext von Alltagsdenken
 
Sucht ist ein negativ konnotierter umgangssprachlicher Begriff für ein vermeintlich übermäßiges, zwanghaftes oder krankhaftes Verhalten mit oder ohne Gebrauch von Substanzen (Drogen oder Rauschmittel). Differenzierungen zwischen Suchtstörungen und pathologischen psychischen Persönlichkeitsstörungen sind im Alltagsdenken unscharf. Regelmäßiges Verhalten, das als unerlaubt, gefährlich, dysfunktional, selbstschädigend und sozial nicht toleriert bzw. in einem auffälligen Maß als normabweichend wahrgenommen wird, gilt als Sucht. Als Ursache wird ein nicht der eigenen Kontrolle unterliegendes zwanghaftes Verlangen nach Erlebniszuständen angenommen. 

Harte Suchtstörungen sind substanzgebunden, u.a. Alkoholismus, Rauschmittelkonsum, Nikotinsucht. Darüber hinaus gilt der eigenen Kontrolle nicht unterliegendes und sozial nicht toleriertes Verhalten als Verhaltensstörung, z.B. Pädophilie, Nekrophilie, Sexsucht, Pornosucht, Kleptomanie, Pyromanie, Putzzwang, Waschzwang, Essstörungen, Messie-Syndrom, Spielsucht, Kaufsucht, Smartphone-/Social-Media-Sucht, Geltungszwang, Narzissmus, Fitnesssucht, Sportsucht, Schönheitssucht.  
 
Soziale Wertungen von Verhaltensweisen variieren (sub-) kulturabhängig. Zwischen Verhaltensweisen, die als normal, üblich oder akzeptabel gelten sowie Verhaltensweisen, die als zwanghaft, krankhaft und sozial nicht tolerierbar gelten, bestehen keine scharfen Grenzen, sondern fließende Übergänge, die ja nach Kontext oder sozialem Milieu unterschiedlichen Wertungen unterliegen. Ein Gebrauch von Drogen und Rauschmitteln ist seit dem Altertum in allen Kulturen üblich.(6) Legalität vs. Illegalität von Drogenkonsum sind kulturspezifisch definiert. Legale Drogen sind selbst bei übermäßigem Konsum und zeitweiligem Kontrollverlust als Ausnahme toleriert.
 
Legaler Sport ist generell sozial akzeptiert, solange er gelegentlich betrieben wird und als förderlich oder zumindest unschädlich für Gesundheit gilt. Eine Minderheit, die anscheinend Bequemlichkeitsbedürfnisse missachtet und mit Begeisterung körperlich anstrengenden Sport treibt, verhält sich vermeintlich ‚unnatürlich‘. Sich als ‚normal‘ wahrnehmende Mehrheiten empfinden ‚unnatürliches‘ Verhalten als irritierend, erklärungsbedürftig, krankhaft.(7) Alltagswissen über Persönlichkeitsstörungen, Zwangshandlungen und -gedanken erklärt ein vermeintliches Übermaß an sportlichen Aktivitäten alltagssprachlich als ‚Sportsucht‘, ‚Fitnesssucht’, ‚Laufsucht‘ im Sinne zwanghafter Persönlichkeitsstörungen.(8) Kulturelle Prägungen von Normenkonformität bleiben unbewusst, was Verwechslungen und Vermischungen des Gültigkeitsbereichs sozialer Normen mit biologisch artspezifischen Verhaltensweisen ermöglicht.(9)
 
Auffällig ist im Vergleich unterschiedlicher Freizeitverhalten, dass ein vermeintliches Übermaß an Sport als Suchtverhalten gedeutet wird, während andere typische Freizeit-Hobbys (z.B. Zucht von Hunden, Tauben, Blumen etc., Sammeln von Briefmarken, Münzen, Kunst etc., Gärtnern, Basteln, Handarbeit, Modellbau, musische und kreative Betätigungen etc.) nicht suchtverdächtig sind. Das gilt selbst dann, wenn ein Hobby übermäßig viel Zeit und Geld in Anspruch nimmt, wenn soziale Kontakte aufgrund von Hobbys verarmen, wenn Betreiber von Hobbys als skurril oder verschroben angesehen sind oder wenn ein Hobby für weite Kreise der Bevölkerung unverständlich bleibt.
 
Ähnliches gilt für religiöses Verhalten. Selbst wenn in sektiererisch-fundamentalistischen Bewegungen das gesamte Leben um religiöse Praktiken kreist und keineswegs sozialen Normen einer Majorität der Bevölkerung entspricht, fällt dieses Verhalten nicht unter Sucht sondern unter Frömmigkeit. Hobbys und auch Religiosität sind als individuelle Leidenschaften offensichtlich auch in einem Übermaß sozial toleriert. Implizit wird unterstellt, dass diese Verhaltensweisen der eigenen Kontrolle unterliegen (d.h. keine zwanghafte Abhängigkeit besteht), nicht selbstschädigend sind und das Gemeinwohl nicht stören.
 
Dagegen ist mit körperlicher Anstrengung betriebener Freizeitsport nur innerhalb von Grenzen durchschnittlicher Leistungsfähigkeit der Bevölkerung oder als heldenhafte Leistungsspitze sozial toleriert. Jogging und Top-Leistungen sind o.k., wer sich zwischen diesen Polen bewegt, etwa leistungsorientierte Runner, scheint psychisch gestört zu sein. Widersprüche in der Wahrnehmung von Hobbys und Religiosität im Vergleich zu Sport sind vermutlich auf unterschiedliche soziale Wertmuster zurückzuführen:
  • Hobbys sind mit positiven Persönlichkeitseigenschaften assoziiert. Hobbys stehen für aktive Lebensgestaltung, Ausgeglichenheit, Zufriedenheit. Da Hobbys überwiegend im privaten Umfeld stattfinden, bleiben Schattenseiten von Hobbys öffentlich unsichtbar.
  • Religiosität unterliegt zwar in der Neuzeit einem umfassenden Veränderungsprozess in Richtung Individualität, aber sie ist tief in Kultur verankert und umgibt religiöse Menschen mit positiv ausstrahlender spiritueller bzw. geistiger und ethischer Aura.
  • Körperlichkeit von Sport ist dagegen mit Instinkt- und Triebhaftigkeit assoziiert, die als geringwertig und zur Schädlichkeit tendierend angenommen werden.
  • Erfahrungen interkulturell variierender Wertschätzungen von Sport basieren auf eigenen Beobachtungen. Im deutschsprachigen Kulturraum genießen sportliche Aktivitäten eine deutlich geringere soziale Wertschätzung als im englischsprachigen Kulturraum, wo Schulsport und Universitätssport in Erziehungsprogrammen integriert sind und sportliche Leistungen Ansehen und Vorteile in Bildungsinstitutionen verschaffen.
Auffassungen von Sportsucht als Symptom von Persönlichkeitsstörungen beruhen im Alltagsdenken überwiegend auf Vorurteilen und Missverständnissen, die aus Unwissen zustande kommen, weil den meisten Menschen Sport als Quelle eines körpereigenen Belohnungs- und Motivationssystems mangels eigener Erfahrung verborgen bleibt. Nur wer selbst aktiv Sport treibt, kennt aus dem eigenen Erleben diese von Forschungsergebnissen der Neurobiologie bestätigten Erfahrungen.(10) Jenseits von Alltagsdenken ist Sportsucht jedoch auch eine wissenschaftlich relevante Problematik, allerdings nicht als Massenphänomen, sondern als Randerscheinung.(11) 
 
 
2.3 Sucht aus wissenschaftlicher Sicht
 
2.3.1 Sucht aus Sicht von Psychologie und Pädagogik
 
Psychologie und Pädagogik vermeiden den sozial stigmatisierenden Suchtbegriff und verstehen Sucht als
  • „(...) unabweisbares Verlangen nach einem bestimmten Erlebniszustand. Diesem Verlangen werden die Kräfte des Verstandes untergeordnet. Es beeinträchtigt die freie Entfaltung einer Persönlichkeit und zerstört die sozialen Bindungen und die sozialen Chancen eines Individuums“
sowie als
  • „(...) eine Erscheinung, der man auf allen Gebieten des menschlichen Erlebens und Verhaltens begegnen kann. Ob Arbeiten, Sammeln, Machtstreben, Kaufen, Spielen oder Sexualität – jede Form menschlichen Interesses kann in süchtiger Weise erkranken.“(12)
Anstatt von Sucht sprechen Vertreter dieser Disziplinen von psychischen Störungen, Abhängigkeits- und Entzugssyndromen oder Abhängigkeitserkrankungen und unterscheiden substanzgebundene von substanzungebundener Abhängigkeit.(13) Eine durchaus schwierige Identifizierung psychischer Störungen mit Abhängigkeiten unterstützen Kriterienkataloge. Das Klassifikationssystem der Psychiatrie (DSM) diagnostiziert ein Abhängigkeitssyndrom anhand von 4 Klassen des Gebrauchs von Substanzen oder des Verhaltens:(14)
  • gefährlich (mit wahrscheinlich schädlichen Folgen für den Konsumenten)
  • schädlich (der Konsum zeigt bereits schädliche Folgen)
  • dysfunktional (psychisch und/oder sozial)
  • unerlaubt (sozial nicht toleriert)
 
2.3.2 Sucht aus Sicht von Medizin
 
Schulmedizin westlicher Prägung behandelt klinische (objektive, von außen einsehbare) Symptome. Die medizinische Suchtdefinition der Weltgesundheitsorganisation (WHO) ist auf den Gebrauch psychoaktiver Substanzen abgestellt. Nicht-stoffgebundene Abhängigkeiten fallen medizinisch nicht unter Suchterkrankung, sondern gelten als Verhaltensauffälligkeiten aufgrund gestörter Impulskontrolle oder als psychische Persönlichkeitsstörungen unterschiedlicher Genese.(15,16) Behandlungen von Sportsucht oder Fitnesssucht sind somit keine medizinische Aufgaben, sondern an Psychologie oder Psychotherapie delegiert.

Diagnosekriterien der WHO sind wachsweich. Ein Abhängigkeitssyndrom ist zu vermuten, wenn in den vergangenen 12 Monaten mindestens 3 von 6 Kriterien der Kriterienliste ICD-10 vorliegen.(17)
  • Es besteht ein starker Wunsch oder eine Art Zwang zu konsumieren.
  • Die Kontrollfähigkeit ist in Bezug auf den Beginn, die Beendigung oder die Menge des Konsums vermindert.
  • Bei Beendigung oder Reduktion des Konsums entsteht ein körperliches Entzugssyndrom.
  • Um die ursprünglich durch niedrigere Dosen erreichte Wirkung hervorzurufen, werden zunehmend höhere Dosierungen benötigt.
  • Mit fortschreitendem Konsums entsteht ein erhöhter Zeitaufwand, um zu konsumieren oder sich von den Folgen zu erholen bei gleichzeitig fortschreitender Vernachlässigung anderer Vergnügungen oder Interessen.
  • Trotz eindeutig nachweisbarer schädlicher Folgen wird der Konsum fortgesetzt.
 
2.3.3 Sucht als Lernprozess aus Sicht von Neurobiologie
 
Neurobiologie untersucht Suchtverhalten in Strukturen des Gehirns.(18) Neurobiologische Forschungen machen verständlich, wie Konsum psychoaktiver Substanzen im Gehirn Adaptionsprozesse auslöst, die als Lernmechanismen aufgefasst werden und im Ergebnis ein als Abhängigkeit bezeichnetes weitgehend automatisiertes Handlungsmuster erzeugen.(19) Gemäß neurobiologischem Modell bewirken Interaktionen von Reizverarbeitung, Kognition, Gedächtnis und Emotion ein ‚Umprogrammieren‘ des zwischen Netzwerken des präfrontalen Cortex und Funktionen des mesolimbischen Systems vermittelnden Belohnungssystems.(20)
 
Das Abhängigkeits- und Entzugssyndrom (engl. Craving für Substanzverlangen) wird mit Prozessen der Verstärkung (Sensitivierung) im mesolimbischen System des Gehirns erklärt. Gemäß neurobiologischer Annahmen aktivieren Suchtmittel und exzessives Verhalten verschiedene Botenstoffe, insbesondere Dopamin, die Wohlbefinden oder Euphorie auslösen und unangenehme Gefühle wie Ängste, Enttäuschungen, Stress verdrängen.(21,22) Aufgrund wiederholter Verstärkungsprozesse findet als Ergebnis eines Lernprozesses eine Neuroadaption statt (Modellierung kognitiver und neuronaler Strukturen). Das Gehirn lernt, Suchtmittel und exzessives Verhalten als positiven Reiz wahrzunehmen. Das Fehlen dieser Reize erzeugt ein Belohnungsdefizit, sodass unkontrollierbare Wünsche nach Suchtmitteln entstehen.(23)
 
In der Entwicklung vom Kind zum Erwachsenen sinkt die Dopaminproduktion um etwa 2/3. Dieser Sachverhalt lässt vermuten, dass reifende Gehirne Jugendlicher unter einem Belohnungs-Mangel-Syndrom leiden, das Jugendliche besonders anfällig für Ersatz durch Drogen macht. Alkoholkonsum stimuliert das Belohnungssystem, weil Alkohol die Dopaminproduktion um bis zu 200 % erhöht.(24)
 
Menschen sind nicht gleich anfällig für die Entstehung von Suchtverhalten. Neurobiologisch sind Genvarianten identifiziert, die Selbstkontrolle reduzieren und möglicherweise die Anfälligkeit für Suchterkrankungen erhöhen. Dass das Suchtrisiko von Kindern mit alkoholsüchtigen Eltern 4x höher ist als im Bevölkerungsdurchschnitt und Kinder kokainsüchtiger Eltern sogar ein 8x höheres Suchtrisiko haben, lässt genetische Faktoren vermuten, die mit Tierversuchen und in Zwillingsstudien bestätigt werden konnten.(25)
 
Die Reichweite neurobiologischer Erklärungen von Sucht ist jedoch eingeschränkt:
  • Wie das Suchtmodell der Medizin beschränken sich neurobiologische Erklärungen von Sucht auf stoffgebundene Abhängigkeiten. Nicht-stoffgebundene Abhängigkeiten (z.B. Glücksspiel, Computerspiel- oder Internetsucht, Sexsucht, Kleptomanie, Pyromanie etc. und auch Sportsucht) sind medizinisch nicht als Sucht definiert, sondern gelten als Verhaltensauffälligkeiten aufgrund von Störungen der Impulskontrolle, die in Zuständigkeiten von Psychologie fallen.
  • Neurobiologie ist blind gegenüber Einflüssen des sozialen, kulturellen und wirtschaftlichen Umfelds, die modellierenden Einfluss auf Verhalten und kognitive Strukturen ausüben. 
 
2.4 Laufglück oder Sportsucht?
 
2.4.1 Individuelle Nutzenpotentiale aktiver sportlicher Betätigung
 
Schulmedizin irrte bis nach dem 2. Weltkrieg bezüglich Auswirkungen von Ausdauersport auf Gesundheit. Dieser Irrtum ist inzwischen Geschichte. In Köpfen vieler Menschen irrlichtern jedoch noch immer Annahmen der Schädlichkeit von Langstreckenlauf oder allgemein des exzessiven Sporttreibens, die bewegungsarme Lebensstile und die Vermeidung eigener sportlicher Anstrengungen vermeintlich rechtfertigen.
 
Überwiegend ahnungslose Wissens-Illusionen des Alltagsdenkens übersehen oder ignorieren belastbare Erkenntnisse zum Wert von Gesundheitssport:
  • Sport schützt vor Erkrankungen (nicht absolut, aber statistisch signifikant).
  • Sport ist gesundheitsfördernd (wenn keine gesundheitlichen Handicaps bestehen, die bestimmte Sportarten oder Überschreitungen von Intensitätsgrenzen verbieten).
  • Sport ist hilfreich für die Gewichtsregulierung und zur Vermeidung von Übergewicht.
  • Sport trainiert und verbessert nicht nur körperliche, sondern auch mentale Fitness.
  • Sport steigert das emotionale Wohlbefinden.
  • Sport stärkt die Persönlichkeit.
  • Sport erhöht das Niveau von Lebensqualität.
  • Sport verlängert bei ausreichender Dosierung die statistische Lebenserwartung.
Für Menschen, die beruflich keiner schweren körperlichen Arbeit nachgehen, ist Sport die einzige erfolgreiche Methode, um kulturell bedingten Bewegungsmangel und dessen gesundheitsschädliche Auswirkungen nachhaltig zu kompensieren. Zu vermeiden sind jedoch einseitige Belastungen sowie Belastungen in zu hoher Intensität, weil diese den Kompensationseffekt potentiell konterkarieren. Sinnvoll sind Kombinationen von Ausdauersport mit Ausgleichssportarten (Kraftsport, Gymnastik, Stretching, Yoga). Mit zunehmendem Alter sollte der Anteil von Ausgleichssportarten erhöht werden, weil Muskelmasse, Beweglichkeit und Bewegungskoordination abnehmen.
 
 
2.4.2 Sport als Suchtverhalten

Die Frage nach der Schädlichkeit von Sport stellt sich in der Gegenwart anders als noch vor 60 Jahren und evoziert andere Antworten. Heute ist eher zu fragen:
  • Welche Art von Sport ist gemeint: aktiver Bewegungssport, Zuschauersport (Fan-Sport), Sitzsportarten (z.B. E-Sport)?
  • Welche Dosierung von Sport dient der Gesundheit und ab welcher Schwelle leidet die Gesundheit?
  • Wie manifestiert sich Sportsucht und wer ist gefährdet?
Wer ohnehin körperliche Anstrengung fürchtet wie der Teufel das Weihwasser, Bequemlichkeit für ein ’natürliches Bedürfnis’ oder ein Menschenrecht hält, sich von Wellness-Anwendungen nachhaltige Wirkung verspricht und möglichst keinen Schritt zu Fuß geht, der weiß nichts über Laufen und Ausdauersport und glaubt trotzdem, Ausdauersport plausibel als Suchtverhalten zu verstehen.  
 
Dem Verdacht von Sportsucht sind Menschen ausgesetzt, die Ausdauersport und insbesondere Laufsport systematisch und konsequent betreiben. Ausdauersport ist anstrengend und unbequem (daher negativ konnotiert) und kostet Zeit, die für vermeintlich schönere, bequemere und emotional positivere Tätigkeiten genutzt werden könnte. Der Suchtverdacht beruht auf Denkfehlern und Unverständnis seitens Menschen, die Bequemlichkeit jeder Unbequemlichkeit prinzipiell vorzuziehen, weil Bequemlichkeit mit Annehmlichkeit, Behaglichkeit, Komfort, Belohnung, gutem Leben assoziiert, während anstrengende Unbequemlichkeit als Mangel, Unbehaglichkeit, Unzulänglichkeit, Strafe, Strapaze aufgefasst wird. Diese Haltung begünstigt Missverständnisse, die exzessiv betriebene Ausdauersportarten als selbstschädigendes Verhalten deuten und vermuten lassen, dass Ausdauersport Belohnungsreize analog Drogenkonsum aktiviert, weshalb die Praktizierung des Sports als zwanghaftes Verhalten mit Kontrollverlust zu verstehen sei. Berichte über Phänomene wie Runner‘s High und Flow stützen vermeintlich diese Annahmen. Beide Phänomene sind zwar real, aber sie sind keine Verstärker für Laufsucht.
 
Abgesehen von Ausnahmen gilt prinzipiell:
  • Sport ist legal und i.d.R. ungefährlich.
  • Sport ist kein Zwangsverhalten.
  • Sport ist individuell nicht dysfunktional, krankhaft oder selbstschädigend.
  • Sport unterliegt der eigenen Kontrolle und bedarf willkürlicher Planung und Organisation.
Im Alltagsdenkens beruhen vermeintliche Sachverhalte von Sportsucht und Laufsucht i.d.R. auf unreflektierten Missverständnissen. Keine Regel ohne Ausnahme! Wenn „jede Form menschlichen Interesses (...) in süchtiger Weise erkranken kann“(26), dann gilt das auch für Freizeithobbys, Religiosität und Sport. Sportsucht ist kein Phantom, sondern vermutete Realität, aber kein Massenphänomen. Empirische Daten sind bis auf eine Ausnahme nicht bekannt. In der FAU-Studie Die Gefährdung zur Sportsucht in Ausdauersportarten wurden 1089 Ausdauersportler befragt (Triathleten, Läufer, Radfahrer). Gemäß Studienergebnis zeigten 4,5 % der Befragten eine Sportsuchtgefährdung. Ca. 10 % der Befragten erkrankten später im Sinne substanzungebundener Abhängigkeit, die Selbstschädigungen in Kauf nimmt.(27,28) Der Frage, wann Sport zur Sucht wird, geht ein Interview mit der Sportpsychologin Nadja Walter nach, wissenschaftliche Mitarbeiterin an der Universität Leipzig.(29) 
 
Als Sportsucht bezeichnete Verhaltensstörungen treten häufig in Verbindung mit gestörtem Essverhalten in Form von Anorexia athletica, Exercise-Bulimie, Adipositas athletica und weiteren Phänotypen von Essstörungen auf. Eine übermäßige Beschäftigung mit Essregeln und Essverhalten, die häufig in Verbindung mit Sportsucht auftritt, wird als Orthorexia nervosa diskutiert.(30) Sportlerinnen sind oftmals von der sog. athletischen Triade betroffen, die sich aus Essstörungen, Amenorrhoe und Osteoporose zusammensetzt. Neuronale Korrelate, wie sie bei stoffgebundenen Abhängigkeiten gefunden (aber noch nicht vollständig erklärt) wurden, sind für nicht-stoffgebundene Abhängigkeiten bislang unbekannt. Darum ist unsicher,
  • ob Sportsucht ein sekundäres Begleitsymptom von Essstörungen darstellt oder als eigenständige psychische Diagnose zu verstehen ist(31)
  • bzw. ob Sportsucht tatsächlich zu Verhaltenssüchten gezählt werden kann.(32)
Aufklärung verspricht eine 2019 begonnene dreijährige Studie mit 240 Teilnehmern der Sportwissenschaftlerin und Thriathletin Flora Colledge an der Uni Basel.(33)

Jenseits der erwähnten Studie erkennen Psychologen weitere Motive als Kandidaten für das vermutete Phänomen Sportsucht:
  • Ersatz für Freunde(34)
  • Realitätsflucht(35)
  • Sinnsuche(36)

    In individuellen Sinnkrisen der Identitätsfindung und/oder der Erfüllung normativer Erwartungen erschließt Sport subjektive Sinnmuster, die zur Realisierung einer als lebenswert aufgefassten Existenz verhelfen.(37) Sportsoziologe Robert Gugutzer identifiziert 5 typische Sinnmuster:
    • Askese: Große Anstrengungen, Disziplin und Verzicht ermöglichen Leistungen, mit denen sich Sportler vom Durchschnitt absetzen.
    • Ekstase: Grenzerfahrungen, Risiken, Abenteuer ermöglichen nicht alltägliche Bewusstseinszustände, die das eigene Leben aufwerten.
    • Hedonismus: Erlebnisse von Lust, Genuss und Freude vermitteln Emotionen ‚richtigen‘ Lebens.
    • Agon: Heldentum sportlicher Wettkämpfe und Erfolg wird zum Lebensziel.
    • Ästhetik: Sport verhilft zur Realisierung kulturell vermittelter Wertvorstellungen von Schönheitsidealen und körperlicher Attraktivität.
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  1. Kapitel 3, Teil 1 des Posts beschreibt die evolutionsbiologische Erklärung dieser Haltung.
  2. Wikipedia: Krankheit
  3. Wikiquote: Paracelsus
  4. Schweizerische Gesellschaft für Suchtmedizin: Neurowissenschaften und Sucht, Glossar (PDF)
  5. Zwangsstörungen, wie z.B. Reinlichkeitszwang, Kontrollzwang, Ordnungszwang, Berührungszwang etc. gehen häufig mit Unsicherheit, Zweifeln, Ängsten, Depressionen einher. Belastbare Erklärungen von Ursachen fehlen bisher. Diskutierte Erklärungsmuster der Entstehung von Zwangsstörungen unterscheiden sich je nach wissenschaftlicher Richtung und vermuten individuell variierende Zusammenhänge zwischen genetischer Veranlagung und psychischen Ursachen. Zwanghafte Persönlichkeitsstörungen, wie Perfektionismus, Pedanterie, Rigidität, Halsstarrigkeit etc. sind therapeutisch schwer zugänglich, weil diese Persönlichkeitsstrukturen aufgrund ungünstiger Sozialisationsbedingungen früh erworben sind.
  6.  Konturen – Fachportal zu Sucht und sozialen Fragen: Kulturdrogen - Drogenkultur
  7.  Individuelle Einstellungen, Überzeugungen und Verhaltensweisen, die Menschen mit der Majorität eines sozialen Milieus teilen, bilden den Kern von Habitus 1und werden i.d.R. als ‚normal‘ empfunden. Siehe Kapitel 2.1 des Posts Wie alles begann: Kurze Geschichte menschlicher Bewegung bis zum Sport der Gegenwart
  8. An Bewertungen sozialer Phänomene sind unbewusste kognitive Automatismen beteiligt, wie systematische kognitive Verzerrungen (Wikipedia: Liste kognitiver Verzerrungen) sowie von Daniel Kahneman und anderen Psychologen identifizierte fehleranfällige Urteilsheuristiken und als ‚Rauschen‘ bezeichnete zufällige Störungen der Wahrnehmung.
    
Urteilsheuristiken verstehen diese Psychologen (im Unterschied zu kontrolliertem Denken) als unbewusst ablaufende automatische Denkprozesse, die aus Gründen ‚psychischer Ökonomie‘ schnelle Entscheidungen in unsicheren Situationen ermöglichen. Urteilsheuristiken sind von unbewussten Prozessen der Kategorisierung (Stereotype) sowie der Verallgemeinerung ohne ausreichende Kenntnis von Sachverhalten (Vorurteilen) beeinflusst.

    Der Begriff ‚Rauschen‘ bezeichnet zufällig auftretende Fehlerquellen der Wahrnehmung (z.B. aktuelle Stimmungslage, Wetter, Hunger, Durst etc.), die Entscheidungen beeinflussen und Irrtümer bewirken. Vom Wahrnehmungs-Rauschen ist die gleichfalls als ‚Rauschen‘ bezeichnete neuronale Variabilität des Gehirns zu unterscheiden, die ebenfalls Einfluss auf Wahrnehmung und Verhalten ausübt. - Online-Lexikon für Psychologie und Pädagogik: Neuronales Rauschen
  9. Innerhalb von (Sub-) Kulturen gelten Einstellungen und Verhaltensweisen als ‚normal‘, die im Durchschnittsbereich von ca. +/- 25 % um den Median liegen. Merkmale und Verhalten außerhalb des Durchschnitts gelten als abweichend und im Randbereich als ‚abnorm‘.
  10. Siehe Teil1, Kapitel 5.3 sowie Teil 2, Kapitel 5.3.3
  11. Siehe Kapitel 5.4
  12. Stangl, Online Lexikon für Psychologie und Pädagogik: Sucht
  13. Wikipedia: Abhängigkeit (Medizin) - Substanzungebundene Abhängigkeit
  14. Wikipedia: Diagnostic and Statistical Manual of Mental Disorders
  15. Neurologen und Psychiater im Netz: Was ist Sucht?
  16. Wikipedia: Persönlichkeitsstörungen
  17. Wikipedia: Internationale Klassifikation der Krankheiten und verwandter Gesundheitsprobeme
  18. Portal Das Gehirn: Die Neurobiologie der Sucht
  19. Schweizerische Gesellschaft für Suchtmedizin: Neurowissenschaften und Sucht (PDF)
  20. Siehe Teil 1, Kapitel 5.3
  21. Deutsches Ärzteblatt 1/2016: Suchterkrankungen: Das Craving in den Griff bekommen (PDF)
  22. Wikipedia: Abhängigkeit (Medizin) - Sensitivierung - Mesolimbisches System
  23. Neurologen und Psychiater im Netz: Was ist Sucht?
  24. Pharmazeutische Zeitung: Neurobiologie: Das süchtige Gehirn
  25. NZZ: Angeborene Anfälligkeit für Sucht erkennen
  26. Stangl, Online Lexikon für Psychologie und Pädagogik: Sucht
  27. FAU-Studie: Ausdauersportarten können abhängig machen
  28. Wie belastbar Gültigkeit und Verallgemeinerungsfähigkeit der Aussagen sind, lässt sich nur einschätzen, wenn das Design einer Studie bekannt ist. Im Vergleich zu randomisierten Studien mit Zufallsauswahl besteht in Beobachtungs- und Befragungsstudien ein erhöhtes Risiko von Verzerrungen (durch Selektions- und/oder Response-Bias), d.h. Ergebnisse können verzerrt sein, weil rekrutierte und befragte Probanden der Studie nicht repräsentativ für die Zielpopulation sind und die Art von Befragungen ebenfalls verzerrte Aussagen provozieren kann. In Medien des Massenpublikums sind dagegen Studienergebnisse i.d.R. wie Fakten dargestellt, ohne methodische Probleme zu berücksichtigen.
    - Bias in Beobachtungsstudien (PDF)
  29. Spektrum der Wissenschaft: Verhaltensabhänigigkeit: Wann wird Sport zur Sucht?
  30. Spektrum der Wissenschaft: Menschen mit Orthorexie streben ein Gefühl von Reinheit an
  31. Flora Colledge: Bewegungssucht – Begleitsymptom von Essstörungen oder eigenständige psychische Diagnose?
  32. Ärztezeitung: Kann Sport süchtig machen?
  33. Universität Basel: Der schmale Grat zwischen Spitzensport und Sportsucht
  34. WELT: Für viele Menschen ist Sport ein Ersatz für Freunde
  35. Portal gesundheit.de der Funke-Mediengruppe: Wenn Sport zur Sucht wird
  36. FAZ, 16.01.2021: Wenn Sport zur Sucht wird
  37. Erstrebenswerte Sinnmuster entstehen weder zufällig noch individuell willkürlich. Sinnmuster sind von Medien beeinflusste und manipulierte (sub-) kulturelle Konstrukte.
 
3 Sport und Lebensqualität
 
Läufer sind glückliche Menschen, behauptet Jeff Galloway, ein ehemaliger US-amerikanischer Elite-Runner.(1) Nachdem Manni Claaßen (ein lokaler Laufheld) im Alter von 77 Jahren seinen 100. Marathon in Köln in der Zeit von 3:58:45 Std. gelaufen ist, erklärt er in einem Interview: "Laufen macht mich glücklich".(2) 

Alle Menschen verhalten sich belohnungsorientiert. Dagegen können wir uns nicht wehren, weil neuronale Strukturen des Belohnungs- und Motivationssystems des Gehirns so programmiert sind. Wir können jedoch Einfluss auf unser Belohnungs- und Motivationssystem nehmen. Diffus ist das vielen Menschen bewusst. Darum sind Drogen weltweit verbreitet und nicht auszurotten. Der Konsum von Drogen kostet nicht nur Geld, sondern beeinflusst das Leben negativ. Aber er kostet keine oder nur wenig Mühe. Darum gehen viele Menschen diesen Weg und sind bereit, einen hohen Preis in Kauf zu nehmen. Dieser Sachverhalt macht deutlich, wie mächtig unser unbewusstes internes Belohnungs- und Motivationssystem ist.

Wer Mühen nicht scheut, dem öffnen sich andere, gesundheitsfördernde Wege zur Stimulierung des Belohnungs- und Motivationssystems mittels Sport, gesunde Ernährung und bereichernde soziale Kontakte.(3) Aus persönlicher Sicht ergänzen Bildung und Reisen diese Liste. Spätestens nach Überschreitung des Lebenszenits wird bewusst, dass das Leben ein Langstreckenlauf ist. Wer Langstreckenläufer ist, weiß aus eigener Erfahrung, dass Langstreckenläufe mehr als eine Metapher für das Leben sind, weil Lauftraining gleichzeitig Lebenstraining ist. Ausdauersport verbessert über körperliche und mentale Fitness hinaus Fähigkeiten zur Bewältigung von Herausforderungen des Lebens. Körperliche und mentale Fitness sind kein Selbstzweck und viel mehr als Fähigkeiten für spezielle Situationen. Fitness ist ein über kurzfristige Glücksmomente hinausreichender Erfolgsfaktor und stabile Basis für robuste Lebensfreude und Lebenszufriedenheit.

Allerdings ist Fitness weder Geschenk noch Glück oder Gnade und sie stellt sich auch nicht zufällig ein. Fitness muss mit Mühe und Anstrengung erarbeitet werden, und das nicht nur zeitweilig mit Blick auf kurzfristige Ziele, sondern immer, ein Leben lang. Teilnahmen an anspruchsvollen, begehrten Events, die eine längere Vorbereitung erfordern, verstärken als Meilensteine die Motivation. Wichtiger ist jedoch, Prioritäten von Alltagsroutinen so zu sortieren, dass persönliche Fitnessprogramme zum gewohnheitsmäßigen Bestandteil des alltäglichen Lebensstils werden, ähnlich selbstverständlich wie Duschen, Wäsche waschen, Einkaufen, Kochen.(4) Aber da Kochen immer mehr out ist, nimmt Fitness mit dem Vordringen von Fastfood ab, während Körpergewicht und Erkrankungen zunehmen. An dieser Entwicklung arbeiten Unternehmen der Lebensmittel-Industrie aktiv mit und scheuen sich im Interesse des eigenen Profits nicht vor Kinder-Marketing zugunsten von Fastfood. Eine aktuelle Studie berichtet, dass in Deutschland Kinder im Alter von 10 - 13 Jahren via Konsum digitaler Medien täglich 15 Werbeanzeigen für ungesunde Lebensmittel sehen.(5,6,7) Bewegungsmangel verstärkt diese evidenten Zusammenhänge. 
 
Wenn jedoch die Integration von Fitnessprogrammen in einen gesundheitsbewussten Lebensstil gelingt, sind Fitness und ihre Benefits ehrlich erarbeitete Belohnungen. Aus eigener Erfahrung wissen wir, was wissenschaftliche Studien bestätigen: Auch bei bereits eingetretenen altersbedingten Leistungseinbußen lohnt sich selbst noch im fortgeschrittenen Alter eine Umstellung des Lebensstils mit Aufnahme eines Fitnesstrainings, weil alle Menschen in jedem Alter von Fitness profitieren.(8,9) Persönlich beeinträchtigte im mittleren Lebensalter eine chronische Erkrankung die eigene Lebensqualität erheblich und machte Zukunftsaussichten ausgesprochen unsicher. In der zweiten Lebenshälfte ermöglichte sportliche Fitness einen Restart mit einer bemerkenswerten Verbesserung individueller Lebensqualität. Mit zunehmender sportlicher Fitness kam die Erkrankung zum Stillstand und wie durch Zauber öffneten sich Tore zu Welten, deren das Leben bereichernde Existenz uns zuvor unbekannt war, weil sie sich nur dem eigenen Erlebnis erschließen. Zusätzlich dürfen wir statistisch(!) erwarten, dass Fitness ein lebenswertes Leben um mehrere Jahre verlängert, wenn es gut läuft. Selbst wenn das Schicksal andere Pläne haben sollte, werden der Reichtum eigener Erfahrungsschätze und die Zufriedenheit über eine gelungene Weichenstellung nicht kleiner.
 
Der 1926 geborene Journalist Werner Sonntag (Redakteur der Stuttgarter Zeitung, Korrespondent der ZEIT, Autor von Laufbüchern, Mitarbeiter von Lauf-Zeitschriften, Gründungsmitglied des DUV und des 100MC fand im Alter von 39 Jahren zum Laufsport, ein Jahr später als wir (Post: Wie alles begann, als wir Läufer wurden). Bis zum Alter von 84 Jahren lief Werner 339 Marathons und Ultramarathons, alleine 33x die 100 km von Biel. „Ohne das Laufen wäre ich im Alter einsam“, erklärte Werner Sonntag 1987 in einem Interview mit dem Spiegel.(10) 

Sport trägt in Verbindung mit einem gesunden Lebensstil zur Vermeidung und zur Bewältigung von Krankheiten bei, ohne Schutz zu garantieren. Wenn Sportler erkranken, überstehen sie jedoch aufgrund ihrer Fitness Erkrankungen regelmäßig besser als untrainierte Menschen. Anlässlich Werner Sonntags 90. Geburtstages berichten Porträts, dass Werner sich 2006 im Alter von 80 Jahren aufgrund von Koronarstenose einer Bypass-OP stellen musste. Werners Fitness verhalf ihm zur Rückkehr nach Biel, wo er 2008 zum letzten Mal im Alter von 82 Jahren die 100 km erfolgreich absolvierte und die Altersklasse 80 gewann. Bis 2015 startete Werner außerhalb des Zeitlimits weiter in Biel. Im Alter von 86 Jahren stellte Werner das Laufen ein, hielt sich aber weiter mit Walking und Wandern fit. 2015 erlitt Werner im Alter von 89 Jahren einen Schlaganfall, den er wegen seiner Fitness gut wegsteckte. Nun geht Werner noch spazieren.(11,12) Am 24. Oktober 2021verstarb Werner Sonntag in Ostfildern, Baden-Württemberg.(13)
 
Wie körperliche und mentale Fitness sowie nicht zuletzt auch Glück nach Herzstillstand und Herztransplantation ein zweites Leben als Thriathlet, Cyclist und Trailrunner ermöglicht, berichtet Multisportler Elmar Sprink mit seiner einzigartigen Biografie. Inzwischen hat Elmar auch eine Corona-Infektion ohne Langzeitfolgen überstanden.
 
Mit mehr als 30 Jahren eigener Laufglück-Erfahrung unterschreiben wir ohne Vorbehalte Jeff Galloways Statement: „Läufer sind glückliche Menschen!“
 
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  1. Jeff Galloway: Richtig Laufen mit Galloway (engl. Galloway’s Book on Running)
  2. Kölner Stadt-Anzeiger über Manfred Claaßen: Laufen macht mich glücklich
    Klemens Wittig, 1937 geboren, lief 2017 im Alter von 80 Jahren den Frankfurt-Marathon in 3:39:54 Std.!
  3. Der Neurologe Christof Kessler macht auf diese Zusammenhänge aufmerksam:

  4. Zu Beginn unseres neuen Sportlerlebens haben wir einen wöchentlichen Plan erstellt und festgelegt, an welchen Tagen, zu welcher Zeit, welche Art von Sportprogramm vorgesehen ist. Aufgrund von Störungen durch nicht vorhersehbare Ereignisse hat sich diese Organisation auf Dauer nicht bewährt. Erst nach ca. 2 Jahren erreichten wir Konstanz durch Umstellung auf morgendliches Training vor der beruflichen Aktivität. I.d.R. weckte uns der Wecker um 4:30 Uhr. Nach einem Frühstück sind wir um 5:30 Uhr zum Training aufgebrochen. Das Tagesprogramm war für uns gegen 21:00 Uhr beendet. Absolut hilfreich ist für eine solche Organisation, wenn man das Training gemeinsam mit dem Partner organisieren kann. Zusätzlich profitiert die Beziehung mit dem Partner aufgrund gemeinsamer Aktivitäten.
  5. Ärzteblatt: Kinder sehen pro Tag 15 Werbeanzeigen für ungesunde Lebensmittel
  6. Kurzfassung einer DANK-Studie: Kindermarketing für ungesunde Lebensmittel in Internet und TV (PDF) 
  7. FAZ: Kinder sehen täglich 15 Anzeigen für ungesunde Lebensmittel
  8. FAZ: Warum sich Sport im Alter lohnt
  9. Deutsches Ärzteblatt 46/2010 zur PACE-Studie der Sporthochschule Köln: Leistungsfähigkeit im mittleren und höheren Lebensalter (PDF)
  10. Spiegel: „Ohne das Laufen wäre ich im Alter einsam“
  11. Laufreport: Der alte Mann und das Mehr
  12. 100MC: Werner Sonntag wird 90
  13. Post 2022 mit Nachruf auf Werner Sonntag und Horst Preisler: Werner Sonntag und Horst Preisler laufen nicht mehr

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