Running ist für uns eine spezielle Form des Reisens. Das hat weniger mit den räumlichen Distanzen zu tun, die auch hier zurückgelegt werden (unter diesem Aspekt bestehen in unserer Kultur viel effizientere Optionen des Raumgewinns). Insbesondere und vor allem ist Running eine meditative Reise, die uns nicht nur Blicke in den eigenen Körper und das eigene Ich zugänglich macht, sondern die behauptete Einheit von Körper und Geist erfahrbar und deren Veränderungen über Zeit bewusst werden lässt. Emil Zátopek macht darauf aufmerksam, dass die Qualität dieser Veränderungen über kleine Variationen vorgegebener Strukturen weit hinaus geht. Dieser dynamische Prozess kontinuierlicher Neuorganisation und Umgestaltung hat eher den Charakter von "Metamorphosen". Diese Gedanken sind keineswegs besonders originell, sondern können sich auf die Metapher des "panta rhei" berufen, die bereits in der Antike auf die Prozessualität der Welt verwiesen hat.
In den Bergen Südtirols liegt der Ausgangspunkt unserer Entwicklung. Als langjährige Südtirolreisende haben wir oft auf den Ortler geschaut, der mit einer Höhe von ca. 3.900 m einer der prominentesten Berge der Ostalpen und darum ein herausragendes Ziel seriösen Alpinisten ist. Während wir die Gipfelbesteiger mit Ehrfurcht, Bewunderung und Sehnsucht beobachtet haben, mussten wir an der Payerhütte die Grenzen unserer eigenen Skills akzeptieren. Uns war bewust, dass die imponierende Leistungsfähigkeit der Bergsteiger nicht auf Kaffee und Kuchen oder Sonnenbädern beruht, sondern auf kontinuierlichem Training. Im Sommer 1987 waren wir uns sicher, diese Herausforderung annehmen zu wollen. Mit dem Ziel, im Sommer des Jahres 1988 auf dem Gipfel des Ortler zu stehen, haben wir dann auch gleich eine hohe Messlatte aufgelegt, an der wir uns beweisen können. Um einer anspruchsvollen Gipfelbesteigung gewachsen zu sein, mussten wir an zwei Defiziten arbeiten:
1. Verbesserung unsere alpinen Fähigkeiten mittels Teilnahme an Eiskursen, Kletterkursen und geführten Bergtouren.
2. Signifkante Steigerung unseres konditionellen Niveaus mittels Ausdauertraining. Weil Laufen als ein sehr effizientes Ausdauertraining gilt und die Hürden der Ausübung niedrig erschienen, haben wir uns dem Laufen zugewendet und im Frühjahr 1988 im fortgeschritttenen Alter von 38 Jahren das Lauftraining aufgenommen.
Der Einstieg in ein regelmäßiges Lauftraining fiel uns selbstverständlich schwer, aber Ziele helfen über Hürden hinweg. Unser erstes Etappenziel war bescheiden und hatte zum Inhalt, 5 km ohne Gehpause durchzulaufen. Nach einigen Wochen lief es sich bereits deutlich leichter, wir wurden auch schneller und konnten nach 4-6 Wochen 5 km in ca. 30 Minuten laufen. Das hat uns ermutigt, ein neues Ziel zu setzen und die Distanz zu verdoppeln. Bis zum Sommerurlaub waren wir in der Lage, 10 km in etwas weniger als 60 Minuten ohne Pause zu laufen.
In 2-3 Monaten sind wir zu Läufern geworden und haben uns auch selbst auch als Läufer identifiziert. Als wir dann im Sommer mit Hilfe eines Bergführers den Gipfel des Ortlers erreicht haben, waren wir überwältigt. Uns wurde bewusst, dass wir uns auf einem neuen Weg befinden, von dem nicht abzusehen war, wohin er uns noch führen und was dieser Prozess aus uns machen wird. Die Aussicht auf völlig neue Erfahrungen, von denen wir eine kleine Probe kosten durften, hat an der Wegführung keine Zweifel aufkommen lassen. Wir waren uns sicher, dass wir diesen Weg gehen wollen, weil unser Leben bereits an Qualität gewonnen hat und weiter gewinnen wird.
Die Teilnahme an Volksläufen hat zusätzliche Erfolgserlebnisse vermittelt und aufgezeigt, dass wir uns auf einem guten Weg befinden und unser Potential noch nicht ausgeschöpft ist. Der erste Wettkampf, dem sich Gisela gestellt hat, war 1988 der Kölner Brückenlauf über 15 km. Als Anfängerin mit nur wenigen Monaten Lauferfahrung war sie noch nie eine so lange Strecke gelaufen, konnte sich aber auf Anhieb unter den besten Kölnerinnen platzieren. Mit diesem Erfolg hat sie sich eine Einladung der Partnerstadt Thessaloniki zum Alexanderlauf über 20 km eingehandelt, der nur wenige Wochen später veranstaltet wurde. Gisela hatte zwar keine Chance, für diese Strecke zu trainieren, aber sie hat die Einladung angenommen und den Lauf unter schwierigen Bedingungen mit Mühe, jedoch in einer hervorragenden Zeit beendet. Ein zusätzlicher Gewinn dieser Reise ist eine Freundschaft, die sich bis heute erhalten hat.
Tief beeindruckt hat uns als Zuschauer der Duisburg Marathon von 1989, der Rahmen einer Universiade ausgetragen worden ist. Wir haben ein neues Ziel erkannt und uns vorgenommen, 1990 unseren ersten Marathon zu laufen. Die politischen Ereignisse haben dazu beigetragen, dass wir unsere Premiere am 30.09.1990 in Berlin erlebt haben. Die Strecke führte nach der Maueröffnung erstmals durch das Brandenburger Tor und den Ostteil der Stadt. In dem Rekordfeld von 25.000 Teilnehmern liefen wir im vorderen Mittelfeld und haben eine Zeit von 3:42 Std. erreicht. Für eine Premiere war das nicht schlecht, viel bedeutender war jedoch die überwältigende neue Erfahrung. In weniger als 4 Stunden waren wir zu Marathonis mutiert und mitunter stellt sich das Gefühl ein, dass ein Rest der damals freigesetzten Endorphine noch immer im Blut zirkuliert.
Nach diesem Ereignis hat unsere Marathonkarriere Fahrt aufgenommen. Unserer Reiselust hat unser Interesse auf Läufe im Ausland gelenkt. Insbesondere die außereuropäischen Läufe haben viele Reisen um unvergessliche Qualitäten bereichert. Mit zunehmender Erfahrung wurden die Läufe berechenbar und haben ihren ursprünglichen Abenteuer- charakter verloren. Gleichzeitig sind wir auf dieser Distanz an die Grenzen unserer Entwicklungfähigkeit gestoßen, weil der altersbedingte Leistungsabfall nicht mehr kompensiert werden konnte. Diese Erkenntnis hat uns bewogen, mit dem Ultra-Langlauf zu neuen Dimensionen aufzubrechen, die völlig neue Erfahrungsräume erschließen. Aufgrund gesundheit- licher Handicaps war das Leistungsvermögen in den letzten Jahren deutlich reduziert. Inzwischen hat die Leistungsfähigkeit wieder zugenommen, und da wir unsere Motivation nicht verloren haben, bleiben wir Runner.
Wenn die Posts der Kategorie "Running" ausschließlich das "long distance running" ab Marathon aufwärts betreffen, besagt das, dass diese Juwelen unserer Lauferfahrung für uns einen besonderen Wert haben. Selbstverständlich haben wir auch an vielen Läufen auf Unterdistanzen teilgenommen. Diese Läufe haben wir gerne als Trainingselemente genutzt, d.h. sie dienten dem Formaufbau oder der Formüberprüfung. Oft ist es auch die soziale Motivation, wegen der wir an Volksläufen teilnehmen. Hier trifft man sich mit Freunden und macht neue Bekannschaften. Bei vielen Veranstaltungen ist es oft das gemeinsame Feiern nach dem Lauf, an das wir uns besonders gerne erinnern.
Unsere Begeisterung für die alpine Bergwelt, Gipfeltouren, Hüttentouren und auch Tageswanderung haben wir selbstverständlich nicht aufgegeben. Laufen und Bergtouren ergänzen sich im Gegenteil hervorragend. Mit der Ausdauer, die wir uns über das Jahr beim Laufen erwerben und erhalten, eröffnen wir uns in der Bergwelt ebenfalls neue Optionen, an die wir vor unserer Häutung nie gedacht hätten. Die Highlights des Laufens sind dagegen vielleicht weniger spektakulär und das Training lässt sich relativ unauffällig in den Alltag integrieren. Trotzdem erschließen sich Quellen, aus denen sich täglich neue Kraft, Zufriedenheit und auch Glück schöpfen lassen.
In 25 Jahren haben wir immer ganzjährig trainiert und nur dann länger pausiert, wenn Pausen aufgrund von Krankheiten oder Verletzungen unvermeidlich waren. In der Aufsummierung über 25 Jahre ergibt sich eine Gesamtstrecke von ca. 96.000 km, was dem 2,4-fachen Erdumfang oder ungefähr 1/4 der Distanz zwischen der Erde und dem Mond entspricht. Der entsprechende Zeiteinsatz zeigt die Bedeutung des Laufens und rechtfertigt sich aufgrund der Höhe des persönlichen Gewinns.
Wem diese Relationen unverhältnismäßig erscheinen, frage sich, wieviel Zeit er in diesem Zeitraum vor dem Fernsehgerät zugebracht hat, welchen Gewinn er daraus bezogen hat und wie nachhaltig dieser ist. Wir wissen aus eigener Erfahrung, dass das Ablegen einer bequemen Konsumentenhaltung nicht leicht fällt. Wer sich jedoch in diesem Sinne entscheidet, belohnt sich mit einem nachhaltigen Qualitätsgewinn seines Lebens. Das Laufen ist nämlich ein Selbstbelohnungssystem mit transzendentaler Qualität. Und die Kontrolle hält man dabei auch noch selbst in der Hand. Wo sich die Wege von Läufern und Nicht-Läufern trennen, entstehen auf Seiten der Nicht-Läufer die bekannten Missverständnisse von der "Laufsucht". Die Beharrlichkeit und mitunter auch Leidenschaft von Läufern sind für Nichtläufer ebenso schwer verständlich wie der Genuß und die Freude am Laufen. Wie sollten auch fremdseelische Zustände nachvollziehbar sein?
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