Samstag, 17. Mai 2003

Rennsteiglauf 2003 - 73,2 km Learning to fly oder der letzte Tango von Schmiedefeld

Im Sommer 2002 wirft eine notwendige Fußoperation Gisela weit zurück. Mit Willenskraft und Trainingsfleiß arbeitet sich Gisela aus diesem Tief heraus. Die Zeit von 3:58 Std. beim Königsforst-Marathon signalisiert bereits ansteigende Form. Mitte April erzielen wir beim Two Oceans Marathon über 56 km eine neue Bestzeit. 4 Wochen später wollen wir es auch noch einmal auf dem Rennsteig wissen.

Wir tanzen wieder unser "pas de deux" und freuen uns erneut mit 8:02:00 Std. über eine neue Bestzeit. Allerdings ist die Strecke in diesem Jahr angeblich ein wenig kürzer. Ob oder wie genau die Strecke vermessen ist oder jemals war, konnten wir bisher nicht erkennen. Die Kilometermarken können zumindest teilweise nur auf groben Schätzungen basieren, wie wir 2003 wieder einmal feststellen mussten. Trotzdem zählt der Rennsteiglauf von 2003 zu unseren schönsten und denkwürdigsten Lauferlebnisse. Mit Platz 2 von 18 in der Altersklasse und 32 von 145 in der Gesamtwertung hinterlässt Gisela eine Marke, die sich sehen lassen kann.

In Stützerbach beziehen wir wieder unser geliebtes Quartier im "Haus Waldfrieden", dessen Inhaber, Familie Kehrel, uns inzwischen als Stammgäste begrüßen. Bevor wir in der Nacht vor dem Lauf nach Schmiedefeld aufbrechen, wo uns um 3:00 Uhr ein Bus zum Start nach Eisenach bringen wird, erwartet uns Herr Kehrel um 1:30 Uhr mit dem Frühstück. In der Zwischenzeit habe er in seiner Küche gearbeitet, wo es immer etwas zu tun gäbe, erklärt Herr Kehrel. Trotzdem "Danke" für soviel Fürsorge, die wir nicht für selbstverständlich halten!

Auch heute ist es wieder kühl. Auf dem "Großen Inselsberg" liegen sogar nach Altschneereste. Überraschungen bleiben uns auf der Strecke und auch wetterseitig erspart.  Inzwischen verfügen wir über einige Erfahrung und gehen die Strecke betont defensiv an. Bereits ein Marathon lehrt, dass eine solche Strecke nur mit Geduld ungestraft zu bewältigen ist. Auf schweren Ultrastrecken lässt sich die Bedeutung der Redewendung "hinten wird die Ente fett" körperlich und mental erfahren.

Wir wählen ein Tempo, das uns eine Chance für eine Endzeit unter 8 Stunden lässt. Auf dem ersten Streckendrittel bedeutet das, Tempo rausnehmen, um nicht zu schnell zu werden. Im mittleren Streckendrittel stellt sich ein angenehmes Gleichgewichtsgefühl ein. Der Rest ist Abenteuer und entzieht sich jeder Planung. 

Kaum haben wir Oberhof erreicht, stellt sich auch heute die übliche Krise ein. Das lässt uns nicht verzweifeln. Wir kenen diese Schwächeperiode und haben sie erwartet. Nun müssen wir sie überwinden. Aber jetzt läuft die Uhr gnadenlos gegen uns, und mit jedem Gehschritt entfernen wir uns von unserer Zielzeit sub 8 Stunden. 

Tatsächlich bewältigen wir auch heute die Krise, aber die letzten 10 km müssten wir in 55 Minuten laufen, um unter 8 Stunden zu bleiben. Das ist auf dieser Strecke unter diesen Bedingungen realistisch nicht zu schaffen. Trotzdem lassen wir nicht die Luft raus, sondern hängen uns noch einmal richtig rein.

Am letzten Getränkestand, der als "Bierfleck" bezeichnet wird, weil dort Köstritzer Schwarzbier angeboten wird, befindet sich die Marke von 70 km. Die letzten 3,4 km müssen wir in 20 Minuten laufen, um unter 8 Stunden zu bleiben. Das schaffen wir! Wir fühlen uns längst wieder stark und bis zum Ziel geht es nur noch eher moderat bergab. Wir schalten jetzt den Turbo ein. Die Folgen eines hohen anaeroben Belastungsanteils müssen wir jetzt nicht mehr fürchten, zumindest nicht auf der verbleibenden Strecke, und verfeuern nun den letzten Körnervorrat.

Wir ziehen uns an etliche vor uns laufende Teilnehmer heran. Wenn wir sie erreichen und an ihnen vorbeifliegen, schauen sie uns irritiert oder sogar ungläubig an. Obwohl jetzt alle kämpfen, würdigen einige von ihnen unsere Leistung und rufen uns Aufmunterungen zu wie "Super!" und "Durchziehen" oder "gleich habt ihr's". Danke, Kameraden!

Aber wo bleibt die nächste Kilometermarke? Fast 10 Minuten vergehen, bis wir diese Marke erreichen. Hier stinkt etwas bis zum Himmel, Mist! Ist der Traum aus? Wir haben keine Sicherheit, welche der Marken richtig oder falsch steht. Weitermachen, heißt darum die Devise. Außerdem macht es uns mächtig Spaß, so über die Strecke zu knallen. Je näher wir dem Ziel kommen, desto mehr wird zur Gewissheit, dass wir unsere "Schallgrenze" nicht durchbrechen werden. 8 Stunden sind abgelaufen, und wir befinden uns noch immer außerhalb des Zielgeländes, hören aber bereits die Geräuschkulisse aus dem Zielraum. Wir geben uns gegenseitig die Parole aus "jetzt alles" und ziehen einen langen Spurt bis zur Ziellinie. Der Moderater sieht uns heranfliegen und kündigt uns an. Hand in Hand laufen wir über die Zielmatte und verspüren viel Glück und nur wenig Enttäuschung. 

Im Nachhinein sollte sich herausstellen, dass der letzte Verpflegungspunkt mindestens 4 km vom Ziel entfernt liegt. Das ist für uns nach 70 km auf diesem kantigen Kurs mit seinem holprigen Untergrund nicht in knapp 20 Minuten zu schaffen. Einen Versuch war es jedoch wert. Mit diesem Versuch sind wir in einen als "Runner's High" bezeichneten Rausch gelaufen, wie wir ihn nur äußerst selten erlebt haben.

Bärbel und Lothar aus Leipzig wollen uns im Ziel empfangen, nachdem Lothar den Marathon gelaufen ist. Lothar ist ein sog. "Traditionsläufer" mit inzwischen mehr als 30 Rennsteigteilnahmen. Seit den Comrades-Läufen in Südafrika sind wir Lothar und seiner Frau freundschaftlich verbunden. Wir treffen sie erst einige Zeit später. Sie haben nicht erwartet, dass wir so schnell sein würden. Wir nehmen diese Erklärung als Lob entgegen und gehen nun erst einmal ins Zelt, um uns mit einem Bier zu belohnen.

Nachbemerkung
Nur 2 Monate später reißt meine Quadrizepssehne des rechten Knies bei einem Bergunfall in den Alpen. Der anfängliche Optimsmus einer Rückkehr auf Ultrastrecken erweist sich als Illusion. Der Rennsteiglauf von 2003 war unser letzter Tango auf Ultrastrecken.

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