42,195 km oder unendlicher Spaß?

"Der Mensch hat dreierlei Wege, klug zu handeln:
Erstens durch Nachdenken, das ist das Edelste,
zweitens durch Nachahmen, das ist das Leichteste,
und drittens durch Erfahrung, das ist das Bitterste."

(Konfizius, 551 v. Chr. bis 479 v. Chr.)

Seit den olympischen Spielen von London im Jahr 1908 ist die Distanz eines Marathonlaufs auf 42,195 km festgelegt. Für Untrainierte oder wenig Trainierte ist das eine unglaublich große Distanz, deren Bewältigung vermeintlich übermenschliche Kräfte erfordert, weshalb sich dort scheinbar überwiegend Irrsinige oder Süchtige tummeln. Tatsächlich ist jedoch diese Distanz mit Fleiß und Geduld für jeden halbwegs gesunden Menschen trainierbar, weil im Unterschied zur Schnelligkeit die individuelle Ausdauerleistung prinzipiell in einem sehr weiten Rahmen mittels Training gesteigert werden kann. Wer diesen Weg systematisch beschreitet, wird feststellen, dass ein Marathonlauf berechenbar wird. Das mag beruhigend sein, bedeutet aber auch, dass der Reiz der Unberechenbarkeit verloren geht und Routine das Abenteur minimiert.

Was tun, wenn auf der Marathondistanz keine Steigerungen mehr möglich sind, die Distanz den Reiz der Unberechenbarkeit verloren hat und die Motivation noch wie vor hoch ist? Meine Antwort auf diese Frage lautet: Neue Herausforderungen auf den Strecken suchen, die über die Marathondistanz von 42,195 km hinausgehen und darum als "Ultramarathon" bezeichnet werden. 

"Ultramarathon" ist eine nicht weiter definierte Sammelbezeichnung für Läufe jenseits der Marathondistanz. Populär sind insbesondere Eintagesläufe über 100 km, 50 Meilen, 100 Meilen oder zeitlich abgegrenzte Läufe über 6, 12, 24, 48 Stunden. Aber auch Mehrtagesläufe werden bis zu 1.000 km, 1.000 Meilen oder auch 6 Tage ausgetragen. Diese Läufe über "runde" Distanzen werden üblicherweise auf Bahnen oder kleinen Runden veranstaltet. Nur so lassen sich die Organisation und die Versorgung für die meistens kleinen Felder leisten. Für die Teilnahmer haben solche Läufe häufig die Funktion eines Mantras, das die Versenkung in einen Zustand aktiver Meditation unterstützt.

Nach eigener Einschätzung sucht nur ein kleiner Anteil der Ultraläufer diese Erfahrungen in religiösen Grenzbereichen. Der überwiegende Anteil Ultraläufer ist selbstverständlich auch an so etwas wie Selbsterfahrung interessiert, sucht diese jedoch diesseitiger und findet sie vor allem in Landschaftsläufen, bei denen es sich meistens um "krumme" Distanzen handelt. Diese können deutlich über 100 km hinausgehen und werden mitunter auch als Mehrtagesläufe oder Etappenläufe ausgetragen. Die Spitze bilden Transkontinentalläufe, die in Europa von Lissabon nach Moskau oder von Sizilien zum Nordkap reichen, als Trans Amerika Footrace bereits 8x quer durch Nordamerika geführt haben oder als Trans Australia Footrace eine laufende Durchquerung Australiens ermöglichen. Hier sind natürlich nur noch sehr wenige Spezialisten unterwegs, die die Grenze des Möglichen markieren.  

Wer Gedanken an Utraläufe zulässt und diese Erfahrungen sucht, landet in Europa auch bald bei dem Nachtlauf über 100 km von Biel und damit in einem Mekka des Ultralangstreckenlauf. Obwohl hier keine "krumme" Distanz gelaufen wird, handelt es sich um einen Landschaftslauf, dessen Strecke in einer großen Runde von 100 km in Biel startet und in Biel endet. Während der Nachtlauf von Biel als ein "must do" des Ultralanglaufs in Europa relativ populär ist, existieren jenseits von Biel und z.T. auch außerhalb Europas gewaltige Heiligtümer, aber auch viele Kleinjuwelen des Ultralaufs. Diese gilt es jedoch zunächst zu finden, um an Erfahrungen teilhaben zu können. Die Disziplin des Ultralanglaufs blüht nämlich eher im Verborgenen (zumindest in Eurpoa). Eine breitere Öffentlichkeit zeigt kaum Interesse, weiß in der Regel nicht einmal von der Existenz dieser Disziplin und reagiert eher verstört auf Informationen über den Ultralanglauf. Allerdings ist das öffentliche Bild auch eher schief, weil öffentliche Medien gerne Informationen über Extremläufe aufgreifen und diese als Schrullen einiger skuriler und wenig seriöser Sportler präsentieren. Diese Extremläufe wie z.B. der Badwater Run, Le Grand Raid, der Marathon de Sables oder auch der hochalpine Swiss Alpin Lauf bilden eine spezifische Nische, die nicht den Ultralanglauf insgesamt repräsentiert.   

Um die Schätze der Ultrawelt (fast handelt es sich um einen eigenen "Kosmos") zu entdecken, ist Biel ein guter Einstieg. Biel ist ein Kulminationspunkt der Ultrawelt und daher auch ein Kreuzungspunkt der sozialen Kreise dieser besonderen Läuferspezies. In Biel findet ein globaler Austausch über Informationen, Gerüchte und Meinungen zu weltweiten Ultraveranstaltungen statt. Als Marktplatz des Ultralaufs hat Biel jedoch mit dem Eintritt in das Internetzeitalter an Bedeutung eingebüßt. Möglicherweise erklären sich damit auch rückläufige oder stagnierende Teilnehmerzahlen und die nachlassende Leistungsqualität.

Die Spitze aller Heiligtümer der Ultrawelt besetzt der seit 1921 in Südafrika ausgetragene Comrades. Wer dort gelaufen ist, hat Früchte vom Baum der Erkenntnis gekostet und ist für den Rest seines Lebens von ihnen infiziert, ohne für diese Tat aus dem Paradies vertrieben zu werden! Das mag übertrieben bzw. unglaubwürdig klingen, wer es erlebt hat, weiß es besser. Angetrieben und gefeiert von Millionen Zuschauern quälen sich alljährlich mehr als 10.000 Teilnehmer ca. 90 km über eine schwere Strecke. Die Ausfallquote liegt bei ca. 25 %. Wer von der Gladiatoren erfolgreich finishen kann, d.h. in der Sollzeit von ehemals 11 und inzwischen 12 Stunden bleibt, ist Zeit seines Lebens ein Held. Wer siegt, wird mit Ehre und Ruhm überschüttet und erwirbt unsterbliche Popularität. Das öffentliche Fernsehen berichtet 12 Stunden life. Wer an den nächsten Tagen als Teilnehmer identifiziert wird, vor dem verneigen sich fremde Menschen und diese räumen gerne einen Platz für einen Teilnehmer.

Hohes Prestige genießt unter Insidern der Spartathlon, ein Ultramarathon, der seit 1983 über 246 km auf der historischen Strecke von Athen nach Sparte mit einem Zeitlimit von 36 Stunden zurückgelegt wird. Der Spartathlon erinnert an den griechischen Boten Pheidippides, der während der Perserkriege im Jahr 490 v. Chr. von Athen nach Sparta gelaufen sein soll, um bei den Spartanern Hilfe für die bevorstehende Schlacht bei Marathon anzufordern. Trotz anspruchsvoller Teilnahmebedingungen scheitern in der Neuzeit alljährlich viele (der wenigen) Teilnehmer, etliche davon auch mehrfach, an der schweren Strecke und/oder dem Zeitlimit.

Um möglichen Spekulation vorzubeugen, sei daruf hingewiesen, dass auf Ultradistanzen keine Geschenke verteilt werden. Preisgelder gibt es nur selten und wenn, sind sie niedrig und bleiben der Elite vorbehalten. Im Gegenteil erfordert eine Teilnahme materielle und immaterielle Opferbereitschaft. Selbsterfahrung ist der einzige Gewinn, der erwartet werden darf. Ehre und Anerkennung beschränken sich in der Regel auf einen inneren Zirkel der Initiierten. In der Öffentlichkeit besteht ein breites Unverständnis, das oft genug Hohn und Spott provoziert.

Belohnungen haben in diesem Kontext eher intrinsischen Charakter. Zu finshen, ist bereits ein großer Erfolg. Jeder Erfolg auf der Ultradistanz erfordert harte Arbeit, hohe Motivation, mentale Stärke und nicht zuletzt eine große Leidensfähigkeit, ohne dass die Gewissheit einer reichen Ernte lockt. Die Überwindung oder der Sieg gegen die eigene Schwäche wird zur Quelle einer tiefen Befriedigung und bereitet unendlichen Spaß.

"Immer, wenn man die Meinung der Mehrheit teilt, ist es Zeit sich zu besinnen."
(Marc Twain)