Donnerstag, 25. Februar 2021

Laufglück oder Laufsucht? - Teil 2: Sport - symbolische Verhaltensweisen eines universellen Kulturmusters (Update 2022)

Vasen mit Sportmotiven
Antike griechische Vasen mit Sportmotiven
Karte Zeus-Heiligtum Olympia (Wikipedia)
Plan des Zeus-Heiligtums in Olympia
Warum sind Gehen und Laufen menschliche Bewegungsarten? 
Was ist Sport? 
Was bedeutet Sport als Kulturmuster?
Ist Laufen gesund?
Macht Laufen glücklich? 
Kann Sport auch Sucht sein? 
Warum bewegen sich in westlichen Kulturen viele Menschen zu wenig?
 
 
 
Ein dreiteiliger Post der Artikelserie 30 Jahre Laufglück geht diesen Fragen aus Sicht von Wissenschaften und Alltagserfahrungen nach. 
Vorliegender Teil 2 identifiziert Sport aus historischer, soziologischer, ökonomischer, psychologischer Perspektive als symbolische Verhaltensweisen eines universellen Kulturmusters.
 
Inhaltsübersicht Teil 2

1          Was ist Sport? Kurze Kulturgeschichte des Sports
1.1       Sport im Altertum
1.2       Entwicklung des Sports in England und Deutschland vom Mittelalter bis zur Neuzeit
1.3       Sport der Gegenwart
1.4       Sport oder Bewegungskultur?
2          Lebensstil und Sport durch die Soziologenbrille betrachtet
2.1       Was ist Lebensstil?
2.2       Einfluss des sozialen Milieus auf Sportinteressen
2.3       Sport als Produkt
2.3.1    E-Sport
2.3.2    Nutzung digitaler Medien (inkl. E.Sport) durch Kinder und Jugendliche

 
1 Was ist Sport? Kurze Kulturgeschichte des Sport
 
Bereits im Altertum entstanden in unterschiedlichen Kulturen Phänomene symbolischer Verhaltensweisen, die heute als Sport bezeichnet werden. Bedeutungen, Kontexte und Bezeichnungen dieser Phänomene variieren kulturspezifisch und verändern sich über Jahrtausende mit kultureller Dynamik. 
 
In ihrem Kern gehen sportliche Wettbewerbe und Kriege auf eine gemeinsame Logik von Konfliktlösungen in Konkurrenzsituationen zurück. Der Unterschied besteht darin, dass Konflikte in sportlichen Wettbewerbe mit theatralischen Spielen ausgetragen und gelöst werden, um Kriege zu verhindern, während Kriege stattfinden, wenn Konsens über ein gemeinsames Regelwerk nicht möglich ist. Der gemeinsame Kern von sportlichen Wettbewerben und Kriegen tritt nirgendwo so deutlich hervor, wie in der Kultur des antiken Griechenlands. Die Einführung der Olympischen Spiele der Neuzeit greift die antike Tradition auf.

Historischer Breitensport diente der Wehrertüchtigung. Diese Funktion hat sich bis zur Gegenwart erhalten. In Prozessen sozialer Differenzierung und Individualisierung entwickelte sich mit zunehmender individueller Freizeit ein von religiösen und politischen Kontexten befreiter Breitensport als Freizeitbeschäftigung.
 
Als Begriff ist Sport erst in jüngerer Zeit entstanden. In die deutsche Sprache importierte Fürst Pückler das Wort Sport aus dem Englischen (vermutlich inspiriert auf Gartenreisen durch England).(1) 1887 wurde der Begriff Sport erstmals im Duden erwähnt.(2) Seine Bedeutungszuweisung als Bewegungs-, Spiel- und Wettkampfarten mit oder ohne körperliche Aktivitäten erfuhr der Begriff des Sports durch umgangssprachlichen Gebrauch. Eine griffige Definition des Begriffs Sport konnte sich bis heute nicht durchsetzen.


1.1 Sport im Altertum

Heute als Sport bezeichnete Aktivitäten bestanden teilweise in ähnlicher Art bereits in der Frühgeschichte etlicher Kulturen als heilige Spiele, die sich von Erwerbstätigkeit bzw. Arbeit sowie von wirtschaftlichen und kriegerischen Aktivitäten abgrenzten. Diese Aktivitäten sind nicht als Sport im Sinne der gegenwärtigen Semantik der Begrifflichkeit zu verstehen, weil sie weder als Freizeitbeschäftigung noch zu spielerischen Unterhaltungszwecken praktiziert wurden, sondern als kultisch-rituelle Handlungen, die in religiös-zeremonielle Bedeutungskontexte eingebunden waren und z.T. nur vom Adel oder von Priesterkasten zelebriert wurden. Wettbewerbe dieser Handlungen hatten ernsthaften, oft aggressiven und mitunter kriegerischen sowie immer heroischen Charakter, was deutlich macht, dass sportliche Wettbewerbe als symbolische Ersatzhandlungen für kriegerische Aktivitäten enstanden sind und diese Symbolik bis zur Gegenwart oftmals unbewusst oder verborgen enthalten, aber sie mitunter auch mit Absicht öffentlich zur Schau stellen.

An Regelwerke gebundene und überwiegend kriegerisch-militärisch konnotierte Leibesübungen und Wettkämpfe fanden in räumlich und zeitlich getrennten historischen Hochkulturen statt:
  • Aufgrund zahlreicher hinterlassener kultureller Artefakte sind sportliche Wettbewerbe im Alten Ägypten dokumentiert und können über mehr als 5000 Jahre zurückverfolgt werden. 
  • Mittelamerikanische Hochkulturen betrieben bereits vor ca. 3000 Jahren in verschiedenen Versionen kultische Ballspiel-Rituale, die als Vorläufer heutiger Ballspiele gelten, die jedoch keinen spielerischen Charakter hatten und tötlich enden konnten.(3) 
  • Die Hopewell-Kultur der nordamerikanischen Ostküste (300 v. Chr. - 500 n. Chr.) spielte ein aggressives Ballspiel, das teilweise mit mehr als 100 Spielern zur Vorbereitung auf Kriege mit anderen Stämmen ausgetragen wurde oder auch gespielt wurde, um Streitigkeiten zu schlichten.(4)
  • Die im Überschwemmungsgebiet des Mississippi lebende Cahokia-Kultur (700 n. Chr. - 1400 n. Chr.) zelebrierte in riesigen Arenen vor großem Publikum ein als Chunkey bezeichnete ernsthaftes Spiel, bei dem scheibenförmige Steine über den Boden gerollt und Speere auf die Steine geworfen wurden. Chunkey konnte einen Krieg ersetzen oder fortsetzen. Im Fall von Niederlagen konnte das Spiel für Spieler tödlich enden. Nach dem Untergang der Kultur wurde das Spiel im gesamten Nordamerika gespielt.
  • Archäologische Funde lassen annehmen, dass in China vor 3000 Jahren ebenfalls Ballspiele stattfanden.(5) Die ältesten Hinweise auf in China praktizierte Kampfkünste werden auf das Jahr 2698 v. Chr. datiert.(6) 
  • Das Zielspiel des Reifenrollens wurde in allen Teilen der antiken Welt gespielt.
  • Grundelemente einer militärisch geprägten Sportkultur vermittelte im antiken Griechenland das Gymnasion, das als Erziehungs-Institution der männlichen aristokratischen Jugend vorbehalten war. Öffentliche Bedeutung erlangte Sportkultur in Agonen (Festspiel-Kulte mit Wettkampf-Charakter), die als Panhellenische Spiele offiziell zu Ehren von Göttern ausgetragen wurden.(7)
In der kriegerischen Kultur der griechischen Antike sind Agone jedoch vor allem im Kontext ihrer politischen, militärischen und sozialen Funktionen zu verstehen. Verfeindete und verbündete Stadtstaaten (Poleis) sowie konkurrierende politische Systeme der Demokratie und der Oligarchie traten mittels Wettkämpfer in einen zeitlich befristeten, politisch aufgeladenen nicht-kriegerischen Wettstreit. Da sich beteiligte Poleis politischen Nutzen erhofften und Wettkämpfer sich zusätzlich persönlichen Nutzen versprachen, wurde trotz strenger neutraler Kampfrichter auch Betrug aufgedeckt.(8).
 
Agone gliederten sich in 3 Hauptdisziplinen:
  • Gymnische Agone (Laufen, Fünfkampf, Faustkampf, Ringen, Allkampf) wurden in Stadien ausgetragen. Aus gymnischen Agonen entwickelten sich Leichtathletik und Kampfsportarten in vielfältig differenzierter Form.
  • In Hippodromen ausgetragene hippische Agone (Reiten und Wagenrennen) finden in ähnlicher Art noch in der Gegenwart statt, wobei Autorennen ehemalige Wagenrennen ablösten.
  • Musische Agone (Musik, Gesang, Theater, Epik- und Lyrikvorträge, Tanz) fanden in Form von Wettkämpfen in Theatern statt. Mit Bezug auf das aktuelle politische Geschehen waren Theateraufführungen oftmals hoch politisch motiviert und versuchten Einfluss auf Politik auszuüben. In der kulturellen Entwicklung haben musische Veranstaltungen der Neuzeit ihren Charakter als Wettbewerb und ihre politische Motivation weitgehend eingebüßt. Elemente musischer Agone blieben in sportlichen Disziplinen mit ästhetischem Charakter erhalten, wie Kunstturnen, Sportgymnastik, Kunstspringen, Tanzwettbewerben.
Läufe der gymnischen Agone waren Kurzstreckenläufe über ein Stadion (192,28 m) oder Waffenläufe in Rüstung über die doppelte Länge sowie Langstreckenläufe über 20 oder 24 Stadien (3845 m oder 4614 m). Dauerläufe auf noch längeren Distanzen waren in der Frühgeschichte unüblich. Als Spezialisten für schnelle Übertragungen von Nachrichten wurden Botenläufer eingesetzt. Die Legende von der Entstehung des Marathonlaufs rankt sich im Kontext der Schlacht bei Marathon (490 v. Chr.) um den Botenläufer Pheidippides. In der Schlacht trat das militärisch unterlegene Heer der Athener gegen eine überlegene Streitmacht des persischen Großreichs an. Die Legende kennt 2 Hauptversionen. Beide sind vermutlich propagandistische Erfindungen.(9,10,11) 

Wettkämpfe der Agone dienten zugleich der Unterhaltung von Zuschauern. In gymnischen Agonen waren als Wettkämpfer nur unbescholtene freie Männer (Vollbürger) zugelassen. Zuschauen durften ausschließlich freie Männer und unverheiratete Frauen. Stadien fassten bis zu 50.000 Zuschauer. Theater der musischen Agone boten bis zu 18.000 Zuschauern Platz. Vermutlich durften auch verheiratete Frauen, Sklaven und Fremde zuschauen. Auftreten durften nur Männer.
 
Breitensport erfüllte in der griechischen Antike ausschließlich militärische Funktionen der Wehrertüchtigung. Da Vollbürger bis zum Alter von 60 Jahren zu Kriegsdiensten verpflichtet waren, Kriege den Normalzustand und Friedenszeiten Ausnahmen bildeten, waren vermutlich die meisten Männer körperlich fit. Eine umfassende sportliche Ausbildung von Mädchen bestand nur in Sparta.(12)  

 
1.2 Entwicklung des Sports in England und Deutschland vom Mittelalter bis zur Neuzeit 

Männlicher Adel feudaler europäischer Kulturen des Mittelalters praktizierte als ‚Beruf‘ das Kriegshandwerk. Wenn nicht gerade Krieg geführt wurde, hielt sich männlicher Adel mit Jagden und Ritterturnieren für den nächsten Krieg fit. Dauerlauf wurde nicht betrieben. Höfische Gesellschaft legte keine Wege zu Fuß zurück und beauftragte Botenläufer für Nachrichtenübertragungen. 

Der Begriff des Wanderns ist in der deutschen Sprache seit dem Mittelalter bekannt. Pilgerreisen unternahmen jedoch nur wohlhabende oder gebildete soziale Schichten. Fußgänger niederer Stände wanderten zweckgebunden als Kaufleute oder als Wandergesellen. Das von Zünften geregelte Wandergesellentum schrieb vor, dass sich zukünftige Handwerkergesellen nach ihrer Lehrzeit einige Jahre auf Wanderschaft begeben mussten, um Wissen und Fähigkeiten zu erweitern. Da Reisen und Wanderungen nicht als Selbstzweck oder zum Vergnügen unternommen wurden, sind sie nicht als Tourismus einzuordnen.(13) 
 
Seit der Aufklärung wuchs bei einer kleinen geistigen Elite eine verklärende Begeisterung für eine bis dahin als Bedrohung empfundene Natur. Mit der neuen Naturempfindung entstand Wandern in Naturräumen als Selbstzweck. Künstler der Romantik griffen diese Bewegung auf und prägten das heutige Bild des Wanderns. Ab dem 18. Jahrhundert entwickelten sich Spazieren und Flanieren als bürgerliche Art der Freizeitbeschäftigung, die aristokratischen Lustwandel des Adels nachahmt.(14)
 
Mit der Renaissance beginnen Anfänge eines verschiedenen Zwecken dienenden Sports im modernen Sinn, der sich von kultisch-religiösen Kontexten absetzt.(15) In Klosterschulen und bürgerlichen Bildungseinrichtungen war körperliche Ertüchtigung kein Programm von Pädagogik. Schulbildung von Ritterakademien (Bildungsanstalten für Söhne des Adels) kannte  bis zum 18. Jahrhundert Sport lediglich als Fechten und Tanzen. Im 18. Jahrhundert verbreiteten sich in Deutschland vereinzelt reformpädagogische Ideen der Aufklärung. 1784 gründete Christian Gotthilf Salzmann (1744 – 1811) in der Thüringer Ortschaft Schnepfenthal bei Waltershausen eine philanthropische Erziehungsanstalt (heute Salzmannschule Schnepfenthal). An der Schule unterrichtete ab 1786 Johann Christoph Friedrich GutsMuths (1759 – 1839), der die Schulpädagogik reformierte und als erster Sportpädagoge gilt. GutsMuths übertrug das aufklärerische Erziehungskonzept Jean-Jacques Rousseaus (1712 – 1778) auf die Schule und führte Gymnastik als Schulfach ein. Der Begriff Gymnastik stammt aus der griechischen Antike. Konzepte von Gymnastik entstanden unter anderen Bezeichnungen in vielen historischen Kulturen. Gutsmuths verstand Gymnastik als ‚Leibesübungen‘, die er mit Spielen, Wandern, Gartenarbeit und handwerklichen Arbeiten verband.(16)
 
GutsMuths war Mitbegründer der Turnbewegung in Deutschland. Als Hauptbegründer der Bewegung gilt Friedrich Ludwig Jahn (1778 – 1852), der den bis dahin bekannten Turngeräten weitere Geräte hinzufügte und den Begriff des Turnens prägte. Unter dem Eindruck der Napoleonischen Kriege entwickelte sich Jahn zum rassistischen und antijüdischen Nationalisten. Jahn verknüpfte die Turnbewegung mit der deutschen Nationalbewegung und beabsichtigte, die deutsche Jugend auf Kämpfe einer Freiheitsbewegung gegen napoleonische Besetzung vorzubereiten. 1810 gründete Jahn mit Freunden in der Hasenheide bei Berlin den ausschließlich Männern „deutscher Abstammung“ als Mitglieder vorbehaltenen geheimen Deutschen Bund zur Befreiung und Einigung Deutschlands. Als Geburtsjahr der Turnbewegung gilt das Jahr 1811, in dem Jahn mit Schülern in der Hasenheide öffentliches Turnen auf einem Turnplatz begann, der mit Geräten nach dem Vorbild von GutsMuths ausgestattet war. Jahn verband mit dem Turnen Ideen einer nationalistischen Erziehung und paramilitärischen Ausbildung.(17)
 
Entstehung und Ausbreitung des modernen Sports entwickelten sich im 18. und 19. Jahrhundert mit der Industrialisierung in England. Der Begriff Sport bezeichnete daher Aktivitäten, wie sie in England praktiziert wurden. Zunächst gab es weder einen Kanon von Sportarten noch Regelwerke, sodass Erscheinungsformen von Sport relativ beliebig und willkürlich waren.(18) Sportliche Aktivitäten und Wettbewerbe hatten als Varianten allgemeiner Sensationen, Belustigungen und Gelegenheitsdarstellungen eher Jahrmarktscharakter. Sie dienten der Volksbelustigung und waren Gegenstand von Wetteinsätzen. Traditionelle 'blood sports' (Hahnenkämpfe, Hundekämpfe, Bären- und Bullenbeißen etc.) wurden allmählich von Wettbewerben mit Vergleichen menschlicher Leistungen verdrängt. Im Übergang zum 19. Jahrhundert entwickelte sich Pedestrianismus als Zuschauersport, bei dem es vor allem um Rekorde, Preisgelder und Wetteinsätze ging. Nachdem alle damals möglichen Rekorde abgeschöpft waren, wandten sich gelangweilte Zuschauer ab. Pedestrianismus war nicht mehr lukrativ.(19)   
 
In Deutschland stand Sport aufgrund unterschiedlicher kultureller Ursprünge politisch in Konkurrenz zum damals völkisch-national oder nationalistisch ausgerichteten Turnen. Von politischer Seite wurde Sport im Hinblick auf Wehrertüchtigung als gleichwertig zum Turnen betrachtet und darum in das Schulturnen integriert. Nach dem Zweiten Weltkrieg begünstigte kultureller Wertewandel die Entstehung einer Vielzahl unterschiedlicher Sportarten, sodass Turnen zu einer Sportart unter vielen anderen wurde.(20,21) 
 
 
1.3 Sport der Gegenwart

Während sich Sport in der Gegenwart in westlichen Industrieländern von religiösen Traditionen vollständig gelöst und Breitensport von politischem Ballast befreit hat, sind im Spitzensport in zahlreichen Disziplinen militärische Traditionen und politische Konnotationen sowie der öffentliche Show-Charakter von Wettkämpfen konserviert. Olympische Spiele der Neuzeit sind unmittelbar aus der antiken Historie abgeleitet. Bei Disziplinen wie Moderner Fünfkampf, Vielseitigkeitsreiten (Military), Sportschießen, Biathlon, Fechten sind historische 'Militär-Gene' offensichtlich. Bis vor einigen Jahren traten bei Wettbewerben des Springreitens Teilnehmer mitunter in militärischen Uniformen an. 
 
Wie schon in der Antike, repräsentieren Wettkämpfer des Spitzensports in Leistungs-Shows internationaler Wettbewerbe vor einem möglichst zahlreichen Publikum die jeweiligen politischen Kulturen ihrer Herkunftsländer. Länder-Wettkämpfe, Nationalflaggen, Nationalhymnen, einheitliche Nationaltrikots, Medaillenspiegel etc. bezeugen, dass Spitzensport nach wie vor politisch nationalistisch und ideologisch aufgeladen ist. Um ihre internationale Leistungsfähigkeit oder auch Überlegenheit zu demonstrieren, fördern Staaten Spitzensport finanziell und institutionell teilweise bis zum Staatsdoping und bieten Profisportlern wirtschaftliche Absicherung in Staatsdiensten. 'Sauberer' Spitzensport ist unter diesen Bedingungen eine Illusion.
 
Semantisch ist Sport der Gegenwart ein unpräziser umgangssprachlicher Begriff, der eine Vielzahl unterschiedlicher Bewegungs-, Spiel- und Wettkampfformen im Kontext von Freizeitgestaltung, Unterhaltungskultur und Pädagogik sowie Maßnahmen der medizinischen Prävention und Rehabilitation bezeichnet. Die umgangssprachliche Konnotation des Begriffsverständnisses verdeutlicht die Definition des Sportwissenschaftlichen Lexikons:(22)
 
„Seit Beginn des 20. Jahrhunderts hat sich Sport zu einem umgangssprachlichen, weltweit gebrauchten Begriff entwickelt. Eine präzise oder gar eindeutige begriffliche Abgrenzung lässt sich deshalb nicht vornehmen. Was im Allgemeinen unter Sport verstanden wird, ist weniger eine Frage wissenschaftlicher Dimensionsanalysen, sondern wird weit mehr vom alltagstheoretischen Gebrauch sowie von den historisch gewachsenen und tradierten Einbindungen in soziale, ökonomische, politische und rechtliche Gegebenheiten bestimmt. Darüber hinaus verändert, erweitert und differenziert das faktische Geschehen des Sporttreibens selbst das Begriffsverständnis von Sport.“ 

Sportsoziologen erkennen eine „Versportung“ der Sozialkultur, die „entsportend“ auf den Sport zurückwirkt.(23) Wo Sport beginnt und wo er endet, ist nicht mehr zu erkennen.(24) 
 
 
1.4 Sport oder Bewegungskultur?
 
Sportwissenschaft ist ein Sammelbegriff für verschiedene wissenschaftliche Disziplinen, die sich im weitesten Sinne mit Sport beschäftigen. Den weiten Bedeutungsraum von Sport fassen Vertreter des Faches als Bewegungskultur auf und Sport als eine Teilmenge mit Wettbewerbscharakter. Wissenschaftstheoretisch wird der unpräzise-amorphe Gegenstand des Faches als Mangel mit Präzisierungsbedarf wahrgenommen.(25,26)
Mit der Absicht, die umgangssprachlich geprägte Beliebigkeit des Sportbegriffs einzuhegen, brachte die wissenschaftstheoretische Diskussion mehrere Modellvorschläge ein:
  • Die Schweitzer Sportwissenschaftler Lamprecht und Stamm schlagen ein Schnittmengen-Modell mit 5 Feldern vor:(27)
    • Leistungssport: klassisches Sportmodell, Wettkampf, Amateurstatus, Vereinssport
    • Mediensport: Unterhaltung, Kommerz, Medien, Wettkampf, Profistatus
    • Freizeitsport: Freude, Mitmachen, (halb)offene Organisationen oder im Fitnesszentrum
    • Alternativsport: Subkultur, Körperkultur, Lebensstil, offene Organisation, Fitnesszentren
    • Instrumenteller Sport: Sport für „höhere Ziele“: Rehabilitation, Erziehung, Integration
  • Der Sportsoziologe Klaus Heinemann identifiziert ebenfalls 5 Modelle des Sports:(28)
    • Traditionelles Sportmodell: auf Leistung und Wettkampf ausgerichtet, sportartenspezifische Regelwerke
    • Showsportmodell: kommerziell mit Unterhaltungscharakter
    • Expressives Sportmodell: erlebnisorientierte unproduktive Bewegung
    • Funktionalistisches Sportmodell: ausgerichtet auf spezifische Wirkungen
    • Traditionelle Spiel- und Sportkultur : lokale Kultur, Folklore
  • Der Sportwissenschaftler Klaus Willimczik schlägt ein Sportmodell mit 6 Clustern vor:(29)
    • Professioneller Hochleistungssport: aggressiv, Gefahr von Gesundheitsschäden
    • Traditioneller Sport: auf Leistung und Wettkampf ausgerichtet
    • Sportnahe Hobbys: Entspannung, Regeneration
    • Präsentationssport: Show, Publikum, Ästhetik, Eleganz, Phantasie
    • Erlebnissport: Abenteuer, Wagnis
    • Gesundheitssport: Wellness, Entspannung, Regeneration
Entwicklungen der sozialen Realität haben die Modelle überholt. E-Sport ist erst in letzten Jahren entstanden und in keinem der Modelle berücksichtigt.(30)
 
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  1.  Lausitzer Rundschau: Fürst Pückler und die Gesellschaft
  2.  Wikipedia: SportGeschichte des Sports
  3.  Wikipedia: Mesoamerikanisches Ballspiel - Mesoamerikanischer Ballplatz - Ulama
     FAZ: Ballspiel der Maya
  4.  Wikipedia: Lacrosse
  5.  Spektrum: China: Bälle aus 3000 Jahre alten Gräbern
  6.  Planet Wissen: Asiatische Kampfkunst 
  7. Siehe Post: Antike Olympische Spiele im Zeus-Heiligtum Olympia
  8. Siehe Post: Basics der Antike Griechenlands
  9. In der von Plutarch (45 - 125) überlieferten jüngeren Version der Legende war Pheidippides als Bote mit der Überbringung der Nachricht beauftragt, dass die Athener gegen das persische Großreich siegreich waren. Nach seinem Lauf über eine heute nicht mehr exakt nachvollziehbare Distanz von Marathon nach Athen (vermutlich ca. 34 km) verstarb Pheidippides nach Verkündigung der Botschaft in der Stadt vor Erschöpfung.
42,195 km der Marathondistanz kamen bei den Olympischen Spielen 1908 in London zustande. Der Lauf sollte zwischen Schloss Windsor und dem neuen Olympiastadion stattfinden und ursprünglich über 25 Meilen gehen (40,23 km). Um die königliche Loge zu erreichen, musste er auf die Distanz von 42,195 km verlängert werden.
  10. In einer älteren Version von Herodot (490/480 - 430/420 v. Chr.) schickte der athenische Anführer Miltiades den Botenläufer Pheidippides mit einem Hilfegesuch nach Sparta. Gemäß Herodots Version legte Pheidippides die über ein Gebirge führende Strecke von ca. 245 km zu Fuß in weniger als zwei Tagen zurück. Als Pheidippides Sparta erreichte, wurde dort zu diesem Zeitpunkt das neuntägige religiöse Fest Karneia gefeiert, das nicht unterbrochen werden durfte. Spartas Heer brach mit 6 Tagen Verzögerung auf. Bei Ankunft der Spartaner in Marathon war der persische Angriff bereits abgewehrt. Politische Botschaft: Sparta hat versagt. Der Ruhm gebührt allein Athen.

    In der Gegenwart wird mit Verweis auf diese Legende seit 1983 der Spartathlon von Athen nach Sparta ausgetragen, ein außergewöhnlich anspruchsvoller Ultramarathon über 246 km mit einem Zeitlimit von 36 Stunden und hoher Aussteiger-Quote. Bei unserem Besuch in Sparta stand der Zieleinlauf kurz bevor. - Post: Reise nach Sparta
  11. In der Antike waren Athen als Seemacht und Sparta als Landmacht verfeindet und führten von 431 v. Chr. bis 404 v. Chr. einen Krieg, aus dem beide Seiten als Verlierer hervorgingen (Spiegel: Krieg der Brüder – Wikipedia: Peloponnesischer Krieg). 

    Wie aktuell dieses tragische historische Ereignis ist, verdeutlichen lesenswerte Besprechungen zur Veröffentlichung Athen oder Sparta - Die Geschichte des Peleponnesischen Krieges des Historikers Wolfgang Will:
  12. Uni Mannheim: Sport und Spiele im antiken Griechenland
  13. Mit der Aufklärung stieg das Interesse an fremden Kulturen und mit ihr die Reiselust einer Elite, die über die notwendigen Mittel verfügte, um sich Pferd, Kutsche und Herbergen leisten zu können. Künstler und Wissenschaftler reisten vor allem nach Italien, um antike Stätten zu besichtigen. Ab dem 16. Jahrhundert unternahmen zunächst Söhne des europäischen Adels und später auch des gehobenen Bürgertums in Begleitung eines Tutors eine obligatorische Reise zu Pferd oder mit der Kutsche in den traditionellen europäischen Kulturraum. Die Grand Tour, die der Bildung des Nachwuchses einschließlich erotischer Erfahrungen den letzten Schliff geben sollte, gilt als der Beginn des modernen Tourismus.
  14. Wikipedia: Fußverkehr
  15. Wikipedia: Geschichte des Sports 
  16. Nach GutsMuths ist der auf einem Höhenweg des Thüringer Waldes verlaufende GutsMuths-Rennsteiglauf benannt, an dem wir zwischen 1994 und 2017 insgesamt zehn Mal auf verschiedenen Strecken als Läufer und als Walker teilgenommen haben (Posts: Rennsteiglauf), davon drei Mal an der Nordic Walking Tour, die von der Salzmannschule in Schnepfenthal über mehr als 35 km nach Oberhof führte. Hinter unserer Schnepfenthaler Unterkunft, dem Gasthof Zur Tanne, befindet sich der von GutsMuths für den Sportunterricht an der Schule eingerichtete erste deutsche Turnplatz. Jenseits des Rennsteiglaufs ist der Rennsteig eine unserer bevorzugten Wanderregionen. 2020 sind wir den gesamten Rennsteig über ca. 170 km in 7 Etappen gewandert (Post: Kult, Kultur, Flow auf der Rennsteigwanderung in 7 Etappen von Hörschel nach Blankenstein).
  17. In der Zeit des Nationalsozialismus versuchte die Turnbewegung eine Ausbreitung als nationalsozialistische Sportbewegung. Die NSDAP verfolgte jedoch Ideen eines gelenkten Staatssports, wie er im italienischen Faschismus bereits etabliert war.
  18. Portal Europäische Geschichte: Die Entstehung des Sports in England im 18. Jahrhundert
  19. Seit ca. 1970 erlebt diese Art von Zuschauersport eine Renaissance dank großer Städtemarathons, die ein Millionenpublikum unterhalten und wirtschaftliche Interessen einer deutlich kleineren Gruppe bedienen.
  20. Wikipedia: Geschichte des Sports
  21. Wikipedia: Sport
  22. Zitat in Wikipedia: Sport: Peter Röthig et al. (Hrsg.): Sportwissenschaftliches Lexikon. Hofmann, Schorndorf 2003, S. 493
  23. GFS-Schriftenreihe Sportwissenschaften, Markus Lamprecht, Kurt Murer, Hanspeter Stamm: Probleme, Strategien und Perspektiven der Schweizer Sportvereine
  24. Wikipedia: Geschichte des Sports (moderne Entwicklung seit dem 18. Jh.)
  25. DVS-Informationen 15 (2000) der Deutschen Vereinigung für Sportwissenschaft, Eckart Balz: Sport oder Bewegung – eine Frage der Etikettierung?
  26. Der Sportwissenschaftler Claus Tiedemann schlägt eine Präzisierung der Begriffe vor, die sich jedoch nicht durchsetzen konnte: „Sport“ – Vorschlag einer Definition - „Bewegungskultur“ – Vorschlag einer Definition
  27. GFS-Schriftenreihe Sportwissenschaften, Markus Lamprecht, Kurt Murer, Hanspeter Stamm: Probleme, Strategien und Perspektiven der Schweizer Sportvereine, Seite 20
  28. Uni-Oldenburg: Modelle des Sports nach Klaus Heinemann (PDF)
  29. Klaus Willimczik: Die Vielfalt des Sports (PDF)
  30. Siehe Kapitel 4.3.1 und 4.3.2)
 
2 Lebensstil und Sport durch die Soziologenbrille betrachtet
 
2.1 Was ist Lebensstil?

In einem komplexen modernen Gesellschaftssystem lebende Menschen und bestehende Institutionen teilen zwar Wertmuster, Institutionen und Infrastrukturen, sie bilden jedoch keine gemeinsame Kultur. Bildlich betrachtet konstituieren komplexe moderne Gesellschaftssysteme einen gemeinsamen Rahmen, der einen Flickenteppich oder ein Puzzle von Subkulturen zusammenfasst, die sich aufgrund gleichartiger Prinzipien der Lebensgestaltung und Wertmuster als soziale Milieus bilden. Rahmen und Inhalt werden in ihrer Gesamtheit als Gesellschaftssystem wahrgenommen.(1) 

Wertmuster sozialer Milieus betreffen u.a. Einstellungen, Meinungen, Interaktionen, Sprachgestus, Schullaufbahnen, Berufswahlen, Politikverständnis, Kunstauffassungen, Musikvorlieben etc.. Wertmuster prägen Denk- und Verhaltensweisen von Menschen nicht absolut, sondern sie lassen Spielräume für Abweichungen und Ausnahmen zu. Kontextbezogene Muster ähnlicher Verhaltensdispositionen und kultureller Praktiken manifestieren sich in Lebensstilen, wie Wohnstil, Kleidung und Mode, Familienkonzepte, Einkaufsverhalten, Essgewohnheiten, Konsumgewohnheiten, Lesegewohnheiten, Mediennutzung, Urlaubsverhalten, Präferenzen von Freizeitgestaltung und Unterhaltung etc.. Statussymbole symbolisieren die Zugehörigkeit zu Subkulturen sozialer Milieus und signalisieren zugleich Abgrenzungen von anderen Subkulturen. Wie sich Wertmuster in Subkulturen ausbreiten und Verhalten beeinflussen, verdeutlicht das Phänomen der Influencer bzw. des Influencer-Marketings
 
Zum Verständnis der Zusammenhänge von sozialen Milieus und Lebensstilen hat der renommierte französische Soziologe Pierre Bourdieu (1930 - 2002) international beachtete Arbeiten beigetragen. Bourdieu zeigt anhand empirischer Daten, dass subkulturelle Lebensstile nicht als Ergebnis willkürlicher individueller Planung entstehen und daher individuelle Lebensstile bestenfalls partiell als Ergebnisse geplanter Lebensgestaltung aufzufassen sind.
 
Zusammenhänge von Lebensbedingungen, ihrer subjektiven Wahrnehmung und individuellen Bedeutung sowie ihres sichtbaren Ausdrucks als Lebensstil definiert Bourdieu als Habitus. Habitus versteht Bourdieu als ein System verinnerlichter sozialer Muster, die Menschen als vermeintlich individuell selbstbestimmt auffassen, tatsächlich aber von sozialstrukturellen Kontexten erzeugt oder beeinflusst sind und darum von vielen Menschen geteilt werden. Neben Alter und Geschlecht einer Person identifiziert Bourdieu 3 Arten von Kapital, die maßgeblichen Einfluss auf die Herausbildung sozialer Milieus und ihrer Lebensstile nehmen, d.h. Habitus modellieren:(2,3)
  • Soziales Kapital (soziale Schicht der Herkunft)
  • Ökonomisches Kapitel (Ausbildung, Beruf, Einkommen)
  • Kulturelles Kapital (Bildung)
 
2.2 Einfluss des sozialen Milieus auf Sportinteressen

Wer Ausdauersport nicht nur als gelegentliches Vergnügen, sondern ernsthaft betreibt, trifft eine bewusste Lebensstilentscheidung prinzipieller Art, die mit erheblichen Konsequenzen verbunden ist und ähnliche Auswirkungen auf die eigene Lebensführung hat, wie etwa die Auswahl des Studiums, des Berufs oder Entscheidungen für oder gegen Ernährungsstile. Menschen, die solche Entscheidungen nicht treffen möchten oder können, werden sich niemals zu ernsthaften Ausdauersportlern entwickeln und profitieren daher nicht von in Kapitel 2 skizzierten Benefits.
 
Die soziologische Betrachtung relativiert jedoch Annahmen bewusster Lebensstilentscheidungen. Milieuspezifische Lebensstile prägen Verhaltensdispositionen und damit auch Einstellungen zum Sport, Interesse an Sportarten, Besuch von Sportveranstaltungen, Wahrnehmung von Medienberichten etc. sowie die Auswahl und Ausübung individueller sportlicher Aktivitäten.(4) 
  • Personen mit niedrigerem Bildungs- und Berufsniveau sind weniger an eigenem aktiven Sport interessiert, sondern eher an Besuchen und Medienberichten von Sportveranstaltungen, bei denen Mannschaftssportarten mit Körperkontakt dargeboten werden (Fußball, Handball, Eishockey). Wenn sie selbst aktiv Sport betreiben, bevorzugen sie Kampf- und Kraftsportarten (Ringen, Boxen, Judo, Karate etc.), den Körper modellierenden Sport (Body Building und Kraftsport in Fitnessstudios) und Fußball.
  • Personen mit höherem Bildungs- und Berufsniveau sind stärker an eigener Sportausübung als an sportlicher Unterhaltung interessiert, wobei sie eher technische Individualsportarten und Ausdauersportarten wählen: Leichtathletik, Radfahren, Schwimmen, Tauchen, Höhlenforschung, Wandern, Klettern, Bergsteigen, Skilaufen, Tennis, Golf, Tanzen. Als Mannschaftssport bevorzugen sie Sportarten ohne Körperkontakt: Volleyball, Basketball, Hockey. Unabhängig von individuell bevorzugten Zielsportarten verschaffen sich viele dieser Sportler dank Lauftraining notwendige Ausdauergrundlagen für die Ausübung ihrer Hauptsportarten. 
Aktive Sportler, die sich auf Ausdauerlauf und verwandte Sportarten konzentrieren, gehören eher zum höheren Bildungs- und Berufsniveau. Motivationen können sich jedoch unterscheiden. Jogger und Nordic Walker streben primär nach gesundheitlicher und körperlicher Selbstoptimierung. Wanderer sind zusätzlich von Naturerlebnissen motiviert. Für Runner ist das Wettkampferlebnis ein maßgeblicher Verstärker. Marathonsammler betreiben ein exklusives Hobby, das sie mit ebenso exklusiven wie intensiven Reiseerlebnissen verbinden.
 
 
2.3 Sport als Produkt

Verhaltenstrends lassen Moden entstehen. Moden verstärken Verhaltenstrends. Sie erzeugen Bedarf und Nachfrage, die Geschäfte ermöglichen. Mit Umsatzpotentialen entstehen Geschäftsmodelle, Industrien und Märkte, die marktfähige Produkte (Waren und Dienstleistungen) gegen Bezahlung anbieten. Sport ist ein nicht unbedeutender Wirtschaftsfaktor.(5,6) Der Sportmarkt besetzt ein eher kleineres Marktsegment. Im Zeitraum 2010 – 2016 entfiel auf den Sektor Sport ein Beitrag von 2,3 % – 2,6 % (71,6 MRD EUR in 2016) am Bruttoinlandsprodukt (BPI). Ca. 2/3 der Ausgaben werden von privaten Haushalten getätigt.(7)

Wie Märkte funktionieren und Produkte gestaltet sein müssen, damit Kunden glücklich, Produkte erfolgreich und Produktanbieter reich werden, ist nicht trivial zu beantworten und darum eine Aufgabe in Händen von Spezialisten des Marketings. Wie Bourdieu feststellte, prägen Lebensstil und Habitus sozialer Milieus das Denken und Handeln von Menschen. Wenn Spezialisten des Marketings Marktforschung betreiben, um Zielgruppen zu segmentieren sowie deren aktuelles Kaufverhalten zu analysieren, um potentielles Kaufverhalten vorhersagen zu können, verknüpfen sie betriebswirtschaftliche Modelle mit Erkenntnissen aus Psychologie und Soziologie. Als Analyse-Instrument ist im Marketing das AIO-Modell der Marktsegmentierung verbreitet, das Lebensstile von Personengruppen auf Märkte projiziert.

In den beiden letzten Jahrhunderten haben sich als Sport deklarierte Aktivitäten zu einem bedeutenden Segment von Unterhaltungs- und Freizeitkultur entwickelt. Methoden des Marketings machen Sport als Produkt zu einem bedeutenden Wirtschaftsfaktor mit wenigen Protagonisten als ‚Stars‘ auf der einen Seite, vielen Zuschauern als Konsumenten auf der anderen Seite und Wirtschaftskonzernen im Hintergrund, die Geld einsammeln. Sport kann nur dann zu einem relevanten Wirtschaftsfaktor werden, wenn er möglichst großes Zuschauerinteresse bindet. Dazu muss Zuschauern vermittelt werden, dass sie Teilnehmer an bedeutenden, einzigartigen und besonders unterhaltsamen Events sind und das Licht strahlenden Heldentums das eigene Leben erhellt. Zuschauer tauschen ihr Geld gegen Emotionen und ersparen sich so deren Erarbeitung, die eigene größere Anstrengungen erfordern würde. Das Marketingkonzept funktioniert offensichtlich, weil Marketingunternehmen von wissenschaftlichen Erkenntnissen profitieren, die sie für die Profitmaximierung von Auftraggebern verwenden. Da Verhalten von Konsumenten massiv manipulativ beeinflusst wird, ist diskussionswürdig, ob Zuschauer gemäß Regeln von Fairness profitieren. 
 
 
2.3.1 E-Sport

Ökonomische Betrachtungen des Sportmarktes orientieren sich an Umsätzen (Geldflüssen). Eine Sportindustrie-Studie der Wirtschaftsprüfungsgesellschaft PwC listet unter den 10 wichtigsten Sportarten gemäß Umsatzpotential vor allem Profisportarten mit vielen Fans und Zuschauern. Im Ranking von Sportarten mit den höchsten Umsatzwachstumschancen liegt E-Sport (Computerspiele) mit den Genres Gaming (Action, Fantasy, Shooter) und Sportsimulationen auf Rang 1.(8) 

Die Bezeichnung dieser Aktivitäten als Sport verdeutlicht die Fragwürdigkeit eines Begriffs, der als Euphemismus dubiose wirtschaftliche Interessen umschreibt, die der körperlichen und mentalen Gesundheit von Spielern kaum dienen, sondern oftmals schaden.(9) E-Sport ist nur in wenigen Ländern von den Sportverbänden als Sportart anerkannt. Der Deutsche Olympische Sportbund (DOSB) stuft E-Sport nicht als Sportart ein.(10) E-Sport ist zwar Big Business, aber er ist kein Sport, bestätigt ein vom DOSB beauftragtes Rechtsgutachten. Die Entscheidung ist nachvollziehbar umstritten in Anbetracht des Sachverhaltes, dass das Internationale Olympische Komitee Schach und Bridge als Sportart anerkennt.(11,12,13) Da Sport längst über Nischen von Freizeit-Hobby-Aktivitäten hinaus zu kommerziellen Marktprodukten mutiert ist und dynamische Transferprozesse die ökonomische Relevanz von Sportprodukten beschleunigen, wäre es keine Überraschung, wenn das Thema bald wieder auf der Olympia-Agenda auftauchen würde.

Im E-Sport reduziert sich Bewegungskultur auf flinke Finger und Reaktionsschnelligkeit. Vermutlich nimmt die intensive Beschäftigung mit virtuellen Phantasiewelten Einfluss auf mentale Strukturen und mentale Gesundheit von Spielern und verbündet sich mit Auswirkungen von Bewegungsmangel.(14,15) Diese Zusammenhänge interessiert E-Sportler so wenig wie Wirtschaftsunternehmen, die mit Hilfe wissenschaftlicher Erkenntnisse ihre Wertschöpfungsprozesse optimieren. Andererseits beklagt die Wirtschaft nachlassende schulische Basiskompetenzen von Schulabsolventen. E-Sport dürfte an einer zunehmenden Medienverwahrlosung Jugendlicher und mit ihr einhergehender Bildungsmisere beteiligt sein. 
 
 
2.3.2 Nutzung digitaler Medien (inkl. E-Sport) durch Kinder und Jugendliche
 
Christian Pfeiffer, Kriminologe, und Manfred Spitzer, Neurowissenschaftler, sind scharfe Kritiker digitaler Unterhaltungsmedien (Fernsehen, Computerspiele, Internetnutzung) und kollidieren selbstverständlich mit Geschäftsinteressen. Pfeiffer et al. konnten in einer Studie Zusammenhänge zwischen Medienkonsum und Schulleistungen zeigen. Je mehr Zeit Schüler mit Medienkonsum verbringen und je brutaler dessen Inhalte sind, desto schlechter fallen die Schulnoten aus, sodass übermäßiger Medienkonsum mit schlechten PISA-Ergebnissen korreliert.(16,17,18) 

Ein weiteres Ergebnis der Studie besagt, dass Geschlecht, soziale Schicht, Migrationsstatus und Herkunftsregion (also sozialstrukturelle Kontexte der jeweiligen Lebenssituation) Art und Umfang der Mediennutzung von Kindern in Deutschland (vermutlich aber auch ähnlich in anderen Ländern) stark beeinflussen. Mediennutzung ist offensichtlich i.S. von Bourdieu als Habitus zu verstehen (siehe Kapitel 4.2).
  • Die Mediennutzung von Kindern aus bildungsfernen Schichten ist mehr als doppelt so hoch wie die von Kindern aus bildungsnahen Schichten.
  • Jungen verbringen mehr Zeit mit Mediennutzung als Mädchen.
  • In Norddeutschland ist die Mediennutzung höher als in Süddeutschland.
  • Mit dem Alter von Kindern nimmt deren Mediennutzung zu.
  • Durchschnittswerte der bildungsabhängigen Mediennutzung:
    • Kinder aus bildungsfernen Migrantenfamilien nutzen digitale Medien durchschnittlich ca. 3 Stunden an Schultagen und 4:23 Stunden an Wochenenden.
    • Kinder aus bildungsnahen Familien nutzen digitale Medien durchschnittlich ca. 1,5 Stunden an Schultagen und 1:45 Stunden an Wochenenden.
  • Merkmalsverknüpfungen der Mediennutzung von Extremgruppen:
    • Ein Junge mit Migrationshintergrund, der in Norddeutschland in einer bildungsfernen Familie aufwächst, nutzt digitale Medien durchschnittlich 4:05 Stunden an Schultagen und 5:40 Stunden an Wochenenden.
    • Ein in Süddeutschland in einer bildungsnahen Familie aufwachsendes deutsches Mädchen erreicht durchschnittlich 43 Minuten Mediennutzung an Schultagen und 54 Minuten an Wochenenden.
Zahlen der Pfeiffer-Studie wurden 2007 veröffentlicht. Smartphones hatten auf diese Zahlen keinen Einfluss, weil sie erst ab 2007 in den Markt kamen. Laut einer Erhebung im Jahr 2015 besitzen mehr als 90 % aller 12-19-Jährigen ein Smartphone. 75 % dieser Gruppe sind mit Flatrate ausgestattet.(19) Vermutlich ist die Verbreitung von Smartphones in dieser Altersgruppe mittlerweile größer. Die meisten Jugendlichen können sich dank Smartphones einer Kontrolle ihrer Mediennutzung weitgehend entziehen. Einflüsse auf individuelle Persönlichkeitsentwicklungen und auf kognitive Strukturen sind unvermeidbar. Wie sich diese Entwicklung in Vergleichen empirischer Erhebungen niederschlägt, dokumentiert das Bildungsmonitoring im Rahmen internationaler Schulleistungsvergleiche.(20,21)  

Art und Umfang des Konsums digitaler Medien sind nicht als Ursachen von Schulleistungen zu verstehen. Es sind soziostrukturelle Bedingungen, die Bildungschancen, Schulleistungen, Medienkonsum von Kindern und Jugendlichen beeinflussen und eine erfolgreiche Lebensgestaltung ermöglichen oder verhindern. Aber ein übermäßiger Umfang des Konsums digitaler Medien scheint sich nachteilig auf Bildungschancen, Schulleistungen und Lebenserfolg auszuwirken. Diese Sachverhalte sind statistischer Art, d.h. sie sagen nichts über Einzelpersonen aus.(22) Manfred Spitzer thematisiert diese Sachverhalte in mehreren Veröffentlichungen, die wegen ihres mitunter polemischen und feuilletonistischen Stils teilweise kritisch rezipiert werden, aber in der Sache auch viel Zustimmung erfahren.(23) 
 
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  1. Angemerkt sei die schillernde Vieldeutigkeit des Kulturbegriffs, auf die ein Artikel im Portal der Bundeszentrale für politische Bildung aufmerksam macht: Vielfalt der Kulturbegriffe
  2. Post: Pierre Bourdieu, Habitus und Doxa – Machteliten und Machtstrukturen
  3. In Deutschland sind für erwachsene Personen 4 Grundtypen gleichgesinnter sozialer Milieus zu erkennen, die jeweils ähnliche Werthaltungen, Prinzipien der Lebensgestaltung, Beziehungen zu Mitmenschen und Mentalitäten aufweisen und mit ihren Lebensstilen symbolisieren.

    BPB: Soziale Milieus: Stefan Hradil: Soziale Milieus – eine praxisorientierte Forschungsperspektive
  4. In seinem Magnum Opus Die feinen Unterschiede belegt Pierre Bourdieu mit empirischen Daten u.a. sozialstrukturelle Zusammenhänge bei der Auswahl von Sportarten in Frankreich. Daten aus Frankreich sind nicht 1:1 auf Deutschland übertragbar, aber strukturelle Muster sind ähnlich. Pierre Bourdieu: Die feinen Unterschiede. Kritik der gesellschaftlichen Urteilskraft, Frankfurt am Main 1982 (französisch: La distinction. Critique sociale du jugement. Paris 1978).
  5. WELT: Deutschland läuft – und gibt dafür Milliarden aus 
  6. GWS Research Report, No. 2013/2: Die wirtschaftliche Bedeutung des Sports in Deutschland (PDF)
  7. GWS Themenreport 2019/1: Die ökonomische Bedeutung des Sports in Deutschland – Sportsatellitenkonto (SSK) 2016 (PDF)
  8. PwC‘s Sports Survey: Sportindustrie: Zeit für eine Neuausrichtung? (PDF)
  9. Triathlet und Sportwissenschaftler Holger Luening: Ist eSports gesund?
  10. Wikipedia: E-Sport
  11. Spiegel: E-Sport ist laut Gutachten kein Sport
  12. ZEIT: E-Sport – Profispieler, keine Profispieler
  13. Wikipedia: Sport
  14. Triathlet und Sportwissenschaftler Holger Luening: Ist eSports gesund?
  15. Deutschen Zeitschrift für Sportmedizin 1/2021, S. 36-40: Energy Expenditure during eSports – A Case Report (PDF)
  16. Die PISA-Verlierer – Opfer ihres Medienkonsums. Eine Analyse auf der Basis verschiedener empirischer Untersuchungen (PDF)
  17. Als Medien sind in dieser Studie Fernseher, Spielkonsole und Computer berücksichtigt. Computerspiele haben an der Gesamtzeit der Mediennutzung lediglich einen Anteil. Zum Zeitpunkt der Studie steckten E-Sport und die Verbreitung von Smartphones noch in Kinderschuhen. Das offenkundige Wachstumspotential beider Sparten gestattet die Vermutung, dass die für Mediennutzung verwendete Zeit und der Anteil E-Sport inzwischen deutlich zugenommen haben und weiter wachsen.
  18. Heise online: Studie: Übermäßiger Medienkonsum korreliert mit schlechten PISA-Ergebnissen
  19. Wikipedia: Kindheit und Jugend in Deutschland: Mediennutzung
  20. Kultusministerkonferenz: Internationale Schulleistungsvergleiche
  21. Deutschlandfunk: Interview mit Bildungsforscher Ludger Wößmann: Unser Bildungssystem bleibt mittelmäßig
  22. Anmerkungen zu Statistik und Stochastik:
    • Statistische Aussagen beschreiben keine Einzelpersonen oder Einzelschicksale (Lieschen Müller oder Hans Meier), sondern Verteilungen von Merkmalen in Personengruppen (Kohorten), z.B. Kinder eines bestimmten Alters oder einer Altersgruppe, Kinder aus bestimmten sozialen Verhältnissen etc..
    • Studien zeigen, dass der Umfang des Medienkonsums mit Auffälligkeiten korreliert, die sich nachteilig auf eine erfolgreiche Lebensbewältigung auswirken.
    • Korrelationen zwischen unabhängigen Variablen (Kind, Alter, Medienkonsum) und abhängigen Variablen (Schulerfolg, Verhaltensstörungen, Übergewicht etc.) zeigen Zusammenhänge bzw. Abhängigkeiten, deren Stärke nicht binär zu verstehen ist (ja/nein) sondern als Wahrscheinlichkeit, die der Korrelationskoeffizient definiert. Korrelationskoeffizienten liegen gemäß methodischer Vereinbarung zwischen -1 und +1. Bei ausreichend großer Stichprobe zeigen Werte ab 0,1/-0,1 Zusammenhänge, die als signifikant gelten. Der Korrelationskoeffizient bezeichnet die Stärke der Signifikanz. Mit 0,1 ist sie schwach, mit 0,3 ist sie mittel, ab 0,5 ist sie hoch. Damit ist gleichzeitig ausgesagt, dass der gemessene Zusammenhang nicht für alle Probanden einer Stichprobe gilt, sondern nur für einen Anteil. Bei einer schwachen Korrelation, gibt es viele Probanden, die außerhalb dieser Zusammenhänge liegen. Bei einer starken Korrelation sind viele Probanden einbezogen, aber auch dann gibt es noch immer eine außerhalb liegende Menge.
    • Zusammenhänge vom Typ Korrelation sind keine Kausal-Aussagen, d.h. sie benennen keine Ursachen (Korrelation vs. Kausalität). Welche Art von Ursachen den Zusammenhängen zugrunde liegen, ist eine Frage der Interpretation. Hier ist Theorie erforderlich. Gemäß eigenem Verständnis hängt Umfang des Medienkonsums von familiären sozialstrukturellen Bedingungen ab: Wirtschaftliche Verhältnisse, Bildungsferne/Bildungsnähe, Geschlecht, Alter, Wohnort Stadt/Land, native Einwohner/Migranten, Vollständigkeit und Intaktheit der Familie. Aber auch trifft man auf Streuungen, d.h. die Korrelation ist nicht =1 (sicher Zusammenhang), sondern <1 (wahrscheinlicher Zusammenhang), aber auch nicht =0 (kein Zusammenhang).
  23. Artikel-Auswahl zu Zusammenhängen zwischen kindlicher Entwicklung und Medienkonsum:

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