Sonntag, 14. November 1993

New York City Marathon 1993 - Wallfahrt zum Marathonmekka der Neuzeit

Im Zielbereich des New York City Marathons 1993
Nach vier erfolgreichen Marathonläufen in Deutschland, in denen ich die Endzeit von 3:42 Std. des ersten Laufs 1990 in Berlin bis auf 3:15 Std. 1992 in Hamburg steigern konnte, fühle ich mich reif für Großes. Das zu dieser Zeit größte und bedeutendste Laufevent ist der New York City Marathon. Der olympische Gedanke des Dabei- seins reicht nicht, es soll auch eine neue Bestzeit fallen, mit der ich mich meiner Traummarke von 3 Stunden annähern möchte.

Als Laufpartner konnte ich Juppy aus Aachen gewinnen, der zwar im gleichen Leistungsbereich läuft, sich selbst jedoch als überlegen betrachtet. Juppy möchte ebenfalls bald die 3 Stunden knacken. Unsere freundschaftliche Konkurrenz sichert eine hohe Motivation, die wir auch unbedingt benötigen, um unsere hohen Trainingsumfänge durchzustehen, mit denen wir unser Defizit der Grundschnelligkeit kompensieren.

Mit dem Training an der Belastungsgrenze bewegen wir uns auf einem schmalen Grad. Ob das Risiko zu hoch war, erfährt man regelmäßig erst dann, wenn es eingetreten ist. So ist es auch hier. In den entscheidenden letzten Wochen konnten wir kaum noch trainieren und reisen beide verletzt an. Als großes Glück würden wir empfinden, wenn der olympischen Geist uns gnädig laufen und ohne Anspruch auf eine Zeit ankommen ließe. Realistisch sehen wir keine Chance, wollen sie aber trotzdem nutzen.

Informationen zum NYC Marathon
Der NYC-Marathon ist ein Punkt-zu-Punkt-Lauf, dessen Strecke durch alle 5 Boroughs (Stadtteile) führt. Start ist an der Rampe der Verrazano Narrows Bridge, nach deren Überquerung zunächst Brooklyn und später Queens durchquert werden, ehe Manhatten erreicht ist. Auf der 1st Avenue führt der Kurs in nördlicher Richtung bis zur Bronx. Nach einer kleinen Schleife durch Bronx geht es auf der 5th Avenue zurück nach Manhatten. Das Ziel liegt im Südwesten des Central Park. Der Kurs gilt als anspruchsvoll und ist daher nicht bestzeitenfähig.

Mit seiner perfekten Organisation wurde die Veranstaltung zum Vorbild weiterer inzwischen etablierter Groß- veranstaltungen. In den 90er Jahren erschien es noch fast als ein Wunder, wie mehr als 30.000 Teilnehmer so zu ihrer Zufriedenheit organisiert werden können, dass weltweit eine hohe Teilnahmebegehrlichkeit gewachsen ist. Inzwischen sind 45.000 Starter zugelassen und noch immer beträgt die Anzahl der Bewerber ein Mehrfaches der Startplätze, so dass nach wie vor Startnummern in einem komplizierten Verfahren verlost und zugewiesen werden. Für Internationals gibt es Auslandskontingente, die jedoch auch regelmäßig früh ausgebucht sind. Mehr als 2 Millionen Zuschauer säumen die Strecke und feuern insbesondere die Hobbyläufer frenetisch an.

Organisator des Marathons war von Beginn bis 1993 Fred Lebow, der das kleine lokale Laufevent zum weltweit bedeutendsten Marathon entwickelt hat. Fred Lebow erkrankte 1990 an einem Hirnturmor. Den Wunsch, selbst einmal "seinen" Marathon zu Lebzeiten zu laufen, konnte Fred Lebow 1992  in seinem 60. Lebensjahr ver- wirklichen. Begleitet hat ihn die große norwegische Lauflegende Grete Waitz, neunfache Siegerin des NYC Marathon, die nach ihrem ersten Erfolg von 1978 erklärt hat "I'll never do that again!" Fred Lebow ist 1994 einen Monat vor dem 25. NYC Marathon verstorben. Zu seinen Ehren wurde im Rahmen des 25. NYC Marathon im Central Park in Nähe des Restaurants Tavern on the Green ein Denkmal eingeweiht.  Der Standort des Denkmals wurde später verändert und befindet sich aktuell am östlichen Eingang des Central Parks  auf Höhe der 90. Straße. Grete Waitz hat 2005 erklärt, ebenfalls an Krebs erkankt zu sein und sich einer Chemotherapie zu unterziehen.

Die Tage vor dem Marathon
Da die Zeitverschiebung die aus Europa angereisten Läufer in der Nacht nicht lange schlafen lässt, hat sich die Tradition entwickelt, am frühen Morgen noch vor dem Frühstück in Gruppen im Central Park zu laufen. Viele Gruppen singen und führen Fahnen mit, die sie bei einer Begegnung mit anderen Gruppen unter Austausch von Grüßen und Schlachtrufen heftig schwenken. Die Läufer bilden eine große, freundliche Gemeinschaft, die ihre Begeisterung für das Laufen verbindet. Die euphorische Stimmung bei aufgehender Sonne im Indian Summer des Central Parks reist jeden mit und lässt auch uns mit einem Hochgefühl zum Hotel zurückkehren. Unsere Verletzungen scheinen auch von der Euphorie zu profitieren. Vielleicht wird es ja doch noch etwas, wenn wir weiter morgens und abends mit Eis kühlen.

Während des Tages absolvieren wir das typische Besichtigungsprogramm und treffen überall auf Marathonteil- nehmer mit ihren Begleitern. Der Marathon hat New York City für einige Tage erobert und erzeugt in der sonst lauten und hektischen Stadt eine festliche und friedliche Stimmung.

Headquarter der Organisation ist das Sheraton Hotel, wo wir auch unsere Startunterlagen abholen müssen. Lange Schlangen winden sich um den Block, aber wir rücken zügig vorwärts. Die amerikanisch geprägte Disziplin des Stehens in einer "Line" überträgt sich auf die Läufer. Wo das nicht der Fall ist, achten Volunteers auf die Ordnung und helfen bei Bedarf mit deutlichen Worten nach. Mit einer Identy Card müssen wir nach- weisen, dass wir tatsächlich berechtigt sind, die begehrten Startunterlagen zu empfangen. Dann erhalten wir endlich unsere Startnummer zusammen mit einem großen Beutel Giveaways. Ein Finsher Shirt können wir erst nach dem Lauf an der Verkaufsstelle der Merchandise-Artikel abholen, wo der Andrang ebenfalls groß ist.

Friendship Run am Vortag des Marathons

Vor allem die Internationals ziehen in großen Gruppen durch die Innenstadt Richtung East River bis zum Gebäude des Hauptsitzes der United Nations. Die Grün- anlage neben dem UN-Gebäude ist einge- rahmt von den Flaggen der am Marathon teilnehmenden Nationalitäten. Hier ist der Sammelplatz der 8.000 (!) Teilnehmer am Friendship Run. Während der Platz sich allmählich füllt, agiert auf einer Bühne eine Gruppe asiatischer Taiko-Trommler mit ekstatischen Trommelwirbeln. Eine feier- liche Gänsehautatmosphäre breitet sich aus. Auf der Bühne ist auch der bereits von seiner Krebserkrankung gezeichnete Fred Lebow, Renndirektor des Marathons, mit einigen weiteren Offiziellen zu sehen. Ob Fred ahnt, dass dies sein letzter Marathon sein wird? Neben Fred hält sich sein alter Weggefährte Allan Steinfeld auf, der Fred als Renndirektor nachfolgen wird. Alle teilnehmenden Nationen werden begrüßt und aufgefordert, sich zu melden, was jeweils großen Jubel bei den Teilnehmern dieser Nation auslöst. Dann sind wir bereit zu einem kleinen Jog durch die Innenstadt zum Central Park. Unter dem Trommelwirbel der Taiko-Trommler rücken die Läufer in bester Stimmung aus.


Jubelnd, lachend, singend und fotografierend traben die Läufer langsam in Richtung Central Park.  An unsere Blessuren denken wir nicht, denn sie halten Ruhe. Am Endpunkt werden von LKW-Ladeflächen Frühstücks- pakete in Plastikbeuteln gereicht. Lines lassen sich nicht organisieren, weshalb großes Gedränge herrscht. Das finden wir nicht mehrso lustig und verzichten auf das Frühstückspaket.

Pasta Party im Restaurant Tavern on the Green
Die Lokation verfügt nur über eine sehr beschränkte Kapazität. Um den Andrang zu entzerren, sind die Tickets, die zur Teilnahme an der Pasta Party berechtigen, über mehrere Stunden zeitlich gestaffelt. Die Intention ist prinzipiell nachvollziehbar, funktioniert aber nicht. Wir müssen uns in eine mehrere Hundert Meter lange Warte- schlange einreihen, die nur langsam vorrückt. Nach 2 Stunden Wartezeit sind wir endlich im Zelt angekommen, wo wir uns natürlich nicht in wenigen Minuten durchschleusen lassen wollen und uns darum Zeit lassen. Im Zelt herrscht eine tolle Party-Stimmung, wie wir sie bei keiner anderen Marathonveranstaltung jemals angetroffen haben. Speisen und Getränke sind gut und werden in großzügigen Mengen gereicht. Beim Verlassen des Zeltes füllen wir noch unsere Jackentaschen mit einigen Beer Cans, die wir morgen nach dem Lauf leeren werden. Wir sind fest entschlossen morgen anzutreten und glauben an unsere Chance zu finshen.

Race Day - Anreise zum Start
Der Start ist zwar erst um 11:00 Uhr, aber um 9:00 Uhr wird die Zufahrt über Verrazano Narrows Bridge für den Lauf gesperrt, d.h. 25.000 Läufer müssen vor 9:00 Uhr im Startraum sein. Den Bustransfer zum Start hat unser Reiseveranstalter organisiert. Um 6:00 Uhr werden wir in dern Morgendämmerung am Hotel abgeholt. Bis wir endlich anreisen, klappert der Bus weitere Hotels ab, um Läufer aufzunehmen. Auf der Fahrt nach Staten Island fahren wir durch übelste Slumgebiete, die man als Tourist normalerweise nie zu sehen bekommt. In New York liegen Glanz und soziales Elend so nahe beieinander, wie wir es sonst nur aus der 3. Welt kennen. Mitunter ist es nur ein Block, der diese Welten trennt.


Noch vor 8 Uhr trifft der Bus im Startgebiet ein, das Militärgelände des Fortwadsworth. Wir bewegen uns in einer Schlange von Bussen vorwärts, die nacheinander die Läufer entladen. Die Läufer jedes eintreffenden Busses werden von Chearleading Groups enthusiastisch begrüßt. Wir schauen uns um, erkennen jedoch keine Promis. Nein, wir sind gemeint, die Helden sind hier und heute wir.
Glücklicherweise scheint inzwischen scheint auch die Sonne und verdrängt die Kühle der Nacht. Bis zum Start haben wir noch viel Zeit, in der ein buntes Programm die Läufer unterhält. Die Versorgung mit Essen und Trinken ist verführerisch, aber nicht unbedingt leistungsfördernd. Mit Warmups, Anstehen an Toiletten und letzten Startvorbereitungen füllen wir die Zeit, bis die Läufer zur Startaufstellung aufgerufen werden.

Marathonstart

Die Läufer begeben sich nicht sofort in ihre Startblocks, sondern sammeln sich zunächst unter der Kontrolle und den Anweisungen zahlreicher Volunteers vor dem Startraum in zugewiesenen Startaufstellungszonen. Hier heißt es zunächst wieder zu warten, bis die Läufer aus ihren jeweiligen Aufstellungszonen in ihren Startblock geführt werden, in den sie gemäß ihrer nachgewiesenen Zeit eingeordnet sind. Nach gefühlten Stunden werden wir endlich in Richtung Startblock geführt. Viele Läufer entledigen sich jetzt der zusätzlichen Kleidung, mit der sie sich warm gehalten haben und schleudern ihre Kleidungsstücke in die nächsten Bäume, die bereits reichlich "geschmückt" sind.

Das Startgeschehen können wir gut mitverfolgen, weil wir mit unserer guten Zeit aus dem Frühjahr ziemlich weit vorne auf der oberen Brückenebene stehen, gleich hinter der Männerelite und dem Block Sub 3. Das Startfeld verteilt sich über beide Ebenen der Brücke. Die Frauen starten von der unteren Ebene. Elitefrauen und Roll- stuhlfahrer gehen etwas früher auf die Strecke und sind bereits auf dem Weg. Regelmäßig wird die bis zum Start des Hauptfeldes noch verbleibende Zeit durchgegeben. Mehrere Hubschrauber kreisen bereits seit einigen Minuten über uns. In den Hubschraubern befinden sich die Fernsehkameras für die weltweite Life-Übertragung des Marathons. Gisela und Ana sitzen jetzt zu Hause am Fernsehgerät und verfolgen die Übertragung. Sie werden uns nicht sehen, aber sie werden Ausschau nach uns halten, und wir wissen, dass das so sein wird. Ich bin mir sicher, dass Gisela traurig ist, nicht mitlaufen zu können. Als Lehrerin kann sie sich nicht einfach für mehrere Tage aus dem Schulbetrieb abmelden.

Kurz vor dem Start hat unser Adrenalinspiegel bereits einen hohen Pegel erreicht, aber wir müssen noch einige Ansprachen und Grußworte aushalten, ehe die bei sportlichen Großveranstaltungen obligatorische National- hymne der USA von einem professionellen Sänger life dargeboten wird. Die amerikanischen Läufer nehmen Haltung an, wir sehen das etwas lockerer. Die letzten zehn Sekunden werden kollektiv gezählt. Dann erfolgt nicht ein Startschuss, nein, diese gigantische Veranstaltung verlangt ein anderes Kaliber. Eine große Kanone feuert einen Böllerschuss ab. Unmittelbar nach dem Böller ertönt aus riesigen Lautsprechertürmen der dritte Satz des Konzerts "Der Sommer" ("Tempo impetuoso D'Estate") aus Vivaldis "Le quattro stagioni". Gänsehaut- schauer erfassen mich, während ich mit den vielen anderen Läufern zur Startlinie dränge. Zum Ende des Satzes haben Juppi und ich nach ca. 2,5 Minuten die Startlinie erreicht und wir traben los. Pures Adrenalin scheint durch die Adern zu fließen. Viel Glück! Mach's gut, Alter! Wir sehen uns im Ziel!

Der Lauf
Die Verrazone Narrows Bridge verbindet Staten Island mit Brooklyn. Während wir über eine der weltweit größten Hangebrücke laufen grüßen Feuerwehrboote mit Wasserfontänen, die sie in großen Bögen Richtung Brücke schleudern.Mit einer Durchfahrthöhe von fast 70 m können uns die Wasserfontänen nichts anhaben. Ehe wir auf der anderen Seite Brooklyn erreichen, entleeren viele Läufer noch schnell ihre Blase, die sich in der Wartezeit gefüllt hat. Vielleicht motiviert auch nur der Reiz, einmal von dieser Brücke zu pinkeln. Juppy ist im dichten Feld nicht mehr zu sehen, was zu erwarten war. Ohnehin muss jeder selbst für sich laufen und siegen oder sterben.

Das Zuschauerinteresse in Brooklyn ist zunächst nicht besonders groß, was ich als angenehm empfinde, um erst einmal wieder etwas ruhiger zu werden. Wir werden aber auch immer wieder von unglaublich guten Rock- und Bluesgruppen angetrieben, die life an der Strecke musizieren. In Williamsburg, ein Ortsteil von Brooklyn, leben viele orthodoxe und chassidische Juden, die an Kleidung und Haartracht zu erkennen sind. Die Laufver- anstaltung scheint ihnen nicht zu gefallen. Die Läufer sind Luft für sie. In Greenpoint, einem weiteren Ortsteil Brooklyns, ist das Zuschauerinteresse wieder lebhafter. Hier befindet sich auch die Halbmarathonmarke. Verunsichert durch Verletzungen laufe ich vorsichtig und liege bei fast 1:50 Std. Ich fühle mich nicht stark, habe aber einen starken Willen, das Ziel zu erreichen. Daher bleibe ich besser bei meiner defensiven Taktik. Meine Verletzungen bereiten noch immer keine größeren Beschwerden.

Die Pulaski Bridge verbindet Brooklyn mit Queens, das nächste Borough auf unserer Strecke. In Queens wechseln ruhige und lebhafte Abschnitte. Als nachhaltiger Eindruck bleibt nur der lange Anlauf auf die Rampe zur Queensboro Bridge, die auf Höhe der 59. Straße über den East River nach Manhatten führt. Auch diese mehrspurige Brücke hat zwei Ebenen, von denen aber nur die Hälfte der unteren Ebene für die Läufer reserviert ist. Am Beginn der Bücke haben wir 25 Kilometer absolviert. Die Metallgitterkonstruktion der Brücke ist mit Teppichen abgedeckt. Trotzdem läuft es sich unangenehm auf diesem Untergrund. Bis jetzt sind wir uns nur eingelaufen. Der eigentliche Marathon wird auf der zweiten Hälfte ausgetragen und beginnt hier so langsam.

Während wir auf der Manhatten-Seite die Brückenrampe mit einigen Haken hinab laufen, dringt bereits der Lärm von der 1st Ave zu uns, auf die wir gleich stoßen werden. Dann biegen wir in die 1st Ave ein. Die Läufer em- pfängt eine Begeisterungswelle, wie ich sie noch nie erlebt haben. Die Zuschauer stehen dicht an dicht in mehreren Reihen gestaffelt an der Straße und feuern die Läufer mit ihrer größtmöglichen Lautstärke enthu- siastisch an, unterstützt von vielerlei Lärmgeräten. Moderatoren, die Läufer und Zuschauer antreiben, verstehen es, den Lärmpegel hoch zu halten. Läufer werden immer wieder namentlich und mit ihrer Herkunft angekündigt. Viele Angehörige stehen hier am Straßenrand, weil sie von hier schnell zum Ziel kommen, sobald der erwartete persönliche Held durchgelaufen ist. Wie im Rausch erhöht sich willkürlich oder auch unwillkürlich das Lauftempo bei mir, ohne dass ich mich dagegen wehren könnte. Die Quittung kommt schon bald. Auf der fast 6 km langen Geraden der 1st Ave wird es bald sehr ruhig. Die Straße scheint in die Endlosigkeit zu führen. Die Beine werden schwer und im Kopf stellt sich eine mentale Krise ein.  

Als nach insgesamt ca. 32 km endlich die Willis Ave Bridge erreicht ist, über die wir nach Bronx laufen, hat sich auch die Krise etabliert. Unvorstellbar, jetzt noch 9 km bis zum Ziel zu laufen. O.k., notfalls werde ich den Rest der Strecke gehen, aber ich werde das Ziel erreichen, schwöre ich mir. Noch ist es nicht so weit, dass ich das Laufen einstellen muss. Für solche Fälle sieht meine Taktik vor, mir vor Augen zu halten, welches jämmerliche, schlappe Weichei ich abgebe und wie peinlich meine selbstbemitleidende Wehleidigkeit ist. Als Angeber und Aufschneider möchte ich mich nicht sehen müssen. Nein, ich bin Marathonläufer. Ich bin leidensfähig und kann Schmerzen aushalten. Mit solchen Gedanken und leisen Beschimpfungen gegen mich als Schwächling überwinde ich die Schleife von ca. 2 km durch die Bronx und erreiche die Madison Ave Bridge, die zurück nach Manhatten führt.

Manhatten ist endlich erreicht, aber das Ziel ist noch weit. Ich bin jetzt an der 138. St und muss nun erst einmal bis zur 110. St durch Harlem laufen, bis der Central Park in Sicht kommt, von wo aus noch etwa 5 km zu überwinden sind. In Harlem liegt die Marke von 35 km. Dort sage ich mir gerne, dass ich jetzt schon fast im Ziel bin und nur noch um ein paar Ecken laufen muss. Tatsächlich stelle ich fest, dass der Schmerz nachzulassen beginnt. Nicht, dass es gut liefe, das wäre auch etwas viel verlangt, aber dieses Monster mit dem Namen Marathon verliert zunehmend seinen Schrecken. In Harlem gibt es auch wieder Anfeuerungen, und diese nicht nur als Gekreische, sondern als sehr nette, persönliche und aufmunternde Ansprachen. Die Leute glauben an mich: "You look good. Phantastic! Keep it. Bring it home! Do it!" O.k., o.k., I will do my very best.

An der 110. St ist der Central Park endlich erreicht, die Strecke bleibt aber noch eine Weile auf der 5th Ave Ich laufe jetzt schon wieder richtig rund, d.h es "rollt". Ich überhole viele Läufer, denen es jetzt viel schlechter geht als mir. Auf den letzten Kilometern wirkt das Überholen wie Doping. Das oft als Suchtverhalten zitierte, aber persönlich nur selten erlebte Runner's High stellt sich ein. Viele Zuschauer säumen die Strecke und feuern jetzt auch speziell mich, der scheinbar leicht und locker das Feld von hinten aufrollt. Dann biegen wir in den Central Park ein und laufen nun durch ein dicht gedrängtes enthusiastisch gestimmtes Zuschauerspalier. Diese Zuschauer sind nicht für die Profis hier, sondern wollen uns Hobbyläufer anfeuern und schenken uns ihre Begeisterung und Bewunderung, die ich gerne annehme. Thank you so much, I love you all!

Wer den Central Park kennt, fürchtet die letzten Kilometer, die nie flach sind, sondern als Abfolge vieler Wellen sehr schmerzhaft sein können. Nicht jedoch bei mir. Wellen, Schmerzen, Erschöpfung, Beine? Alles wie weg- gezaubert! Ohne wirkliche Anstrengung fliege ich jetzt über die Strecke wie Phönix aus der Asche, und das ist kein Langsamflug, sondern eher eine Rakete, die an Hunderten von Läufern vorbeischießt.

An der 59. St verlassen wir noch einmal den Central Park und laufen durch die dichte Menge jubelnder Zu- schauer über die 59. St bis zum Columbus Circle, der heute ein Kulminationspunkt der Zuschauerbegeisterung ist. Nachdem die Zuschauertribüne passiert ist, biegen wir wieder in den Central Park ein. Der unbefestigte Abschnitt bis zur Park Road ist mit einem Teppich abgedeckt. Bis zum Ziel liegen noch ca. 400 m vor uns, und die scheinen nur noch steil bergauf zu gehen. Mir bietet das Gelegenheit, in einem langgezogenen Zielspurt noch einmal viele Läufer zu überholen. Auf  der kurvenreichen Strecke ist das Ziel erst sehr spät auszumachen, aber wir hören schon vorher die Durchsagen und den Jubel der Zuschauer. Dann sehe ich das Ziel vor mir und steigere das Tempo bis zum Anschlag. Der Zieldurchlauf mit 3:30:46 Std. und Platz 3.348 von 28.140 Startern stellen mich unter diesen Umständen mehr als zufrieden. Mein bisher größtes Lauferlebnis befindet sich gerade auf dem emotionalen Höhepunkt, der noch lange  anhalten sollte und vermutlich und auch hoffentlich niemals in Vergessenheit geraten wird.  An so einem Tag ist das Leben einfach nur schön.

Nach dem Lauf
Das Überreichen der Medaille ist mit unglaublich herzlichen Glückwünschen verbunden. Anschließend wird jedem Läufer eine Wärmefolie umgelegt. Dann werden wir auch schon  zum Weitergehen gedrängt, um Platz für die nachfolgenden Finisher zu machen. Nun muss ich noch den Bus finden, der meinen Kleiderbeutel zum Ziel transportiert hat. Wie mag es Juppy ergangen sein, der am Morgen seine Chance zu finishen noch ausgesprochen pessimistisch beurteilt hat? Er steht tatsächlich mit Folie und Medaille am Kleiderbus und strahlt vor Glück. Mit der Zeit von 3:26:16 war er ein paar Minuten vor mir im Ziel und ist gerade erst am Bus angekommen.





59. St am Columbua Circle
Mit unserem Doppelerfolg humpeln wir sehr glücklich zurück Richtung Hotel und verweilen auf dem Weg noch ein paar Minuten am Columbus Circle, an dem die Zuschauer das einlaufende Hauptfeld bejubeln. Im Hotel rufen wir erst einmal zu Hause bei unseren wartenden Frauen an und berichten stolz von unserem Erfolg. Auf dem Bett liegend schauen wir uns im Fernsehen die Life-Berichterstattung des Marathons an, die noch einige Stunden läuft. In den News erfahren wir, dass die Deutsche Uta Pippig die Frauenwertung gewonnen hat. Das freut uns zu diesem Zeitpunkt. Einige Jahre später sollte Uta Pippig als Doperin, d.h. als Betrügerin, entlarvt werden. Schade, wir fanden sie so symphatisch. 

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