There’s something lucky about this place
There’s something good coming
For you and me
Something good coming
There has to be
There’s something good coming
For you and me
Something good coming
There has to be
(Tom Petty, Mojo)
Im Alter von 40 Jahren laufen wir am 30.09.1990 in Berlin unseren ersten Marathon. In unserer Erinnerung ist dieses Erlebnis als ein rauschhaftes Hochgefühl gespeichert, das nur langsam über mehrere Wochen abklingt. Mit unserem Auftritt als Marathoni sind wir Mitwirkende eines Ereignisses von historischer Bedeutung. Drei Tage vor der deutschen Wiedervereinigung führt der 17. Berlin Marathon am 30.09.1990 erstmals durch das Brandenburger Tor und den Ostteil der Stadt. Das Interesse an diesem Lauf ist so groß, dass das Limit von 25.000 Meldungen (solche Zahlen gab es bisher nur in New York) bereits im Mai 1990 erreicht ist und Teilnehmer abgelehnt werden müssen. Zum ersten Mal wird ein Marathonlauf live im deutschen Fernsehen und sogar international übertragen. Vorgeschichte
1988 haben wir mit dem Laufen begonnen und schnell Fortschritte und erste Erfolge erzielt. Was wir vorher nicht geahnt haben und erst mit der praktischen Übung erfahren konnten, war die Reichweite dieser Entscheidung. Das Laufen fügt unserem Leben eine neue Qualität hinzu, die uns in eine bis heute anhaltende große Begeisterung versetzt. Wir haben gelernt, den altersbedingten Leistungsabfall zu bremsen und uns zu einer vorher nicht gekannten Leistungsfähigkeit zu entwickeln, mit der sich für uns auch neue Optionen der Lebens- gestaltung und der Lebenserfahrung eröffnen. In Anbetracht dieser Erkenntnis ist zu bedauern, dass wir so lange gebraucht haben, um klug zu werden. Im Unterschied zu vielen Mitmenschen sind wir immerhin zu dieser Einsicht gelangt. Vielen anderen gelingt das offensichtlich nicht. Warum nur fällt das wirklich so Einfache in der Realität so schwer?
Feuer gefangen haben wir als Zuschauer eines Marathons, der im Rahmen einer Universiade 1989 in Duisburg ausgetragen wird. Das Geheimnis dieser Verbindung von Erschöpfung mit Glücksgefühlen wollen wir erfahren und teilen. Wir beschließen, für die Marathondistanz zu trainieren, um im nächsten Jahr in Duisburg mitzulaufen. Bald darauf wird der Duisburg Marathon für 1990 abgesagt. Das Ereignis der deutschen Wiedervereinigung lenkt unsere Aufmerksamkeit auf den Berlin Marathon, ein tradionsreicher und der bedeutendste deutsche Marathon, der sich aber erst im Licht der politischen Ereignisse zu einer weltweit beachteten Veranstaltung entwickelt. Zu diesem Zeitpunkt wissen wir nicht, wie wir uns sinnvoll für einen Marathonlauf vorbereiten können. Wir folgen erfolgreich Manfred Steffny's Vorschlägen in dessen Buch "Marathontraining". Wie ein systematisches Marathontraining aufzubauen ist, lernen wir jedoch erst in den Folgejahren und mit der Praxis. Lehrgeld müssen wir natürlich auch zahlen, und das nicht zu knapp.
Ankunft in Berlin
Nach der Anreise am Freitag treffen wir uns am Samstag mit Giselas Kollegen Helga und Werner im Messegelände, wo sich die Marathonregistrierung befindet und eine Pasta-Party organisiert ist. Werner, der ebenfalls am Lauf teilnimmt, verfügt bereits über Marathonerfahrungen.
Das große, friedliche Läuferfest findet bei bestem Wetter statt und beeindruckt uns tief. Unsere Anspannung wächst. Wir stehen vor einem Abenteuer, von dem wir nicht wissen, wie es ausgehen wird. Im Training sind wir mehrmals 30 km gelaufen. Wir fühlen uns gut vorbereitet und halten eine Endzeit um 3:30 Std. im günstigen Fall für erreichbar. Aber ein Marathon hat seine eigenen Gesetze und wir haben keine Erfahrung. Werner hat Großes im Sinn und orientiert sich an der für Hobbyläufer magischen Schwelle von 3:00 Std. Für morgen verabreden wir, uns nach dem Lauf im Zielbereich zu treffen.
Race Day
Unser Hotel haben wir so gewählt, dass Start und Ziel zu Fuß erreichbar sind. Weit vor der Zeit brechen wir zum Startbereich auf der Straße des 17. Juni auf. Etwa eine Stunde vor dem Start begeben wir uns in unseren Start- block, in dem wir ganz vorne stehen. Wir wollen nichts verschenken. Da es noch keine Chip-Messungen gibt, zählen nur die Brutto-Zeiten. Die Strecke haben wir uns gut eingeprägt und auf einem Streifen Tape einen Zeit- plan notiert, der auf das Lauftempo von 5:00 min/km ausgelegt ist. Es wird heute warm werden. Schön für die Zuschauer, aber ein Nachteil von einigen Minuten für die Läufer. Ein leichter Laufdress ist heute richtig. Schwämme wurden bereits vorsorglich mit den Startunterlagen ausgegeben.
Die Anspannung bis zum Start ist nahezu unerträglich. Über uns kreisen Hubschrauber. Fernsehkameras ver- folgen das Geschehen von stationären Plattformen und mit mobilen Kameras. Anlässlich dieses Ereignisses haben wir uns einen Video-Rekorder zugelegt und zu Hause die Übertragung programmiert. Dann ist es endlich soweit. Nach einem Count Down fällt der Startschuss. Riesige Mengen Luftballons steigen auf. Loslaufen können wir aber erst, nachdem das vor uns liegende Feld abgeflossen ist. In weniger als 5 Minuten passieren wir die Startlinie und streben nun dem Brandenburger Tor entgegen. Ehe wir das Tor erreichen, hören wir den Jubel der Läufer unter dem Tor. Diesem Jubel kann sich niemand entziehen. Er erfasst auch uns. Hier und heute findet Geschichte statt und wir sind mittendrin.
Nach Durchquerung des Brandenburger Tors befinden wir uns "Unter den Linden", der Prachtmeile Ostberlins, die jedoch nicht zu beeindrucken vermag. Abgesehen von den Läufern ist die Straße menschenleer. Das wundert uns zunächst, aber wir sagen uns, dass hier nur Botschaften, Konsulate, Handelsvertretungen etc. ansässig sind und keine echten Berliner. Es zeigt sich jedoch bald, dass im Ostteil Berlins tatsächlich kein Interesse an dem Lauf besteht. Wir laufen ausschließlich durch menschenleere Straßen. Über die Gründe können wir nur spekulieren. Eine Erklärung haben wir nicht.
Im Westteil sieht es dagegen völlig anders aus. Riesige Begeisterungswellen treiben die Läufer durch Kreuzberg und Schöneberg. Legendär ist in Schmargendorf der Platz am "Wilden Eber". Wir waren nicht ahnungslos, aber was sich tatsächlich hier abspielt, ist unbeschreiblich. Wir befinden uns nach ca. 35 km in einer kritischen Phase. Hier empfängt uns eine Begeisterung, die jede Schwäche oder Schmerz vergessen lässt und für den verbleibenden Abschnitt noch einmal neue Kräfte weckt. Trotzdem zieht sich die Strecke länger, als wir uns das wünschen. Inzischen sind wir uns jedoch sicher, dass wir es schaffen werden, und wir liegen sogar in der Zeit noch recht gut. Wir wollen nichts mehr verlieren und beißen jetzt.
Endlich biegen wir in den Kuhdamm ein. Ein lange Gerade von ca. 2 km liegt vor uns. Das tut noch einmal richtig weh, aber der Schmerz ist auszuhalten. In der Ferne hören wir bereits den Trubel aus dem Zielbereich, und dann sehen wir auch das Ziel vor uns. Auf dem letzten Kilometer verspüren wir noch einmal neue Kraft und ziehen wieder an. In einem flotten Tempo passieren wir die Ziellinie und liegen uns in den Armen. Eine geballte Ladung Glück, Freude, Stolz und Zufriedenheit erfasst uns. Die Dimension dieser gefühlten Qualität ist für uns neu, aber auch so schön, dass sich dafür jede Mühe gelohnt hat. Wir fühlen uns als Helden, nein, wir sind Helden! Wir empfangen ein großartiges Geschenk, das wir uns selbst erarbeitet und darum auch verdient haben. Mit unserer Endzeit von 3:42 Std. sind wir spontan nicht wirklich glücklich. Im Nachhinein glänzt bei Würdigung aller Umstände diese Zeit deutlich stärker, als wir es zunächst empfunden haben. Unter den insgesamt 22.806 Finishern belegen wir die Plätze 11.091 und 11.098.
Berlin 1990 im Zielbereich |
Helga und Werner treffen wir am vereinbarten Ort. Werner ist mit 3:15 Std. eine tolle Zeit gelaufen, aber völlig zufrieden scheint er nicht zu sein. Das sind jedoch nur Randbeobachtungen. Jetzt freuen wir uns miteinander. Erlebnisse dieser Art schaffen starke Bindungen. In den Folgejahren werden wir viele Läufe gemeinsam bestreiten und unsere freundschaftlichen Beziehungen intensivieren.
Erste der Frauen ist Uta Pipig mit 2:28 Std. In Berlin steigt sie 1990 zur Elite auf der Marathondistanz auf. Siege in Boston und New York krönen einige Jahre später ihre Karriere, ehe sie im Dopingsumpf untergeht.
Gewonnen hat der Australier Steve Moneghetti, der hier seinen größten Erfolg feiert. Beste Deutsche sind Jörg Peter als Dritter und Stephan Freigang als Vierter, die beide noch unter 2:10 Std. bleiben.
Nachbetrachtungen
Die Teilnehmerzahlen des Jahres 1990 erreicht der Berlin Marathon erst wieder zehn Jahre später. Seit dem Jahr 2005 liegen die Teilnehmerzahlen deutlich über 30.000. In dem Jahr 2006 gründen Berlin, London, Boston, Chicago und New York die Eliteserie der World Major Marathons, in der die Weltelite antritt und die höchsten Preisgelder ausgelobt sind. Die Streckenführung wurde inzwischen verändert. Der Zieleinlauf ist ein absoluter Höhepunkt und braucht weltweit keinen Vergleich zu scheuen. Die Teilnehmer laufen auf der Straße Unter den Linden in Richtung des Brandenburger Tors, schauen nach Durchquerung des Brandenburger Tors auf das Ziel, das nach ca. 200 m auf der Straße des 17. Juni unterhalb der Siegessäule erreicht wird. Auf dem schnellen Kurs in Berlin werden regelmäßig Weltbestzeiten erzielt.
Nach Berlin 1990 siegt Jörg Peter in Hamburg 1991 zum zweiten Mal. Stephan Freigang glänzt noch einmal mit einem dritten Platz bei den olympischen Spielen von 1992 in Barcelona. Darüber hinaus konnten seit dieser Zeit deutsche Männer vordere Plätze bei Mega-Events erfolgreich vermeiden. Deutsche Frauen nehmen dagegen auch in den Folgejahren Spitzenpositionen ein. Die Dominanz afrikanischer Läufer beginnt auf der Marathondistanz erst nach Berlin 1990. Dass mit dem Anstieg von Preisgeldern die Dopingproblematik zunimmt, stellt sich einige Jahre später heraus.
Persönlich haben wir nach 1990 in den Jahren 1993 und 2004 unsere Teilnahme am Berlin Marathon wiederholt. Unsere Bestzeiten von 3:21 Std. und 3:11 Std. auf der Marathondistanz erzielen wir erst einige Jahre in Köln und Hamburg.
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