Samstag, 16. Juni 2001

76. Comrades 2001 - Diamonds for this Girl - THE ULTIMATE HUMAN RACE

Der Schmerz geht, der Stolz bleibt!

Für Euopäer ist die geradzu mythische Bedeutung des Comrades kaum nachvollziehbar. 15.063 Läufer sind in diesem Jahr angetreten, darunter ca. 20% Frauen. In der Sollzeit von 11 Stunden zu finishen und damit Helden- status zu erlangen, gelingt nur 10.740 Läufern, d.h. die Ausfallquote beträgt mehr als 30%! Diese Zahl macht die physischen und mentalen Anforderungen deutlich, die dieses Rennen stellt und zeigt die Quellen, aus denen sich der Mythos des Comrades nährt.
Im Vorjahr konnte ich mein Potential nicht ausschöpfen, was ich in diesem Jahr beim "Down Run" über 89 km von Pietermaritzburg nach Durban nachweisen wollte. Gisela hat inzwischen ebenfalls Freude an Ultradistanzen entwickelt, und gemein- sam haben wir seit Jahresbeginn bei mehreren Ultra- und Marathonwettbewerben gute Leistungen zeigen können. Nach dem erfolgreichen Rennsteiglauf vom Mai 2001 lag es nahe, gemeinsam beim Comrades 2001 anzutreten. Wo immer es sinnvoll erscheint, bevorzugen wir seit einigen Jahren, ein Rennen gemeinsam zu gestalten und gemeinsam im Ziel anzukommen. Den Comrades 2001 streben wir als einen neuen Höhepunkt unserer gemeinsamen Lauferfahrung an.



Erfolg ist für den Läufer ein Geschenk, das man sich selbst bereitet, wenn man bereit ist, den Preis einer intensiven Vorbereitung über mehrere Monate zu zahlen. Training an der Belastungsgrenze bedeutet für einen verletzungsanfälligen Läufer wie mich, Verletzungsrisiken einzugehen. 13 Tage vor dem Rennen ist der "worst case" eingetreten. Bei einem Rennen über 10 km, das Aufschluss über die Form geben soll, ziehe ich mir eine hartnäckige Muskelverletzung zu, die vorerst jedes Laufen verhindert und den Start beim Comrades ausschließt. Glücklicherweise haben wir uns beide für den Comrades vorbereitet, so dass Gisela nun ohne mich starten wird und ich sie im Rahmen meiner beschränkten Möglichkeiten auf diesem Abenteuer begleiten werde.

In Durban wohnen wir wieder im Roseland House bei den erfahrenen Comrades-Läufern Delia und Warren Lloyd. Warren zeigt tiefes Verständnis für meine Probleme. In seiner aktiven Zeit war er so ehrgeizig wie verletzungsanfällig, was ihm den Spitznamen "Injury" eingehandelt hat. Helfen konnte Warren mir leider auch nicht, aber er verspricht, im nächsten Jahr wieder den Comrades zu laufen, wenn ich ebenfalls antrete. Na ja, einen Comrades habe ich mindestens noch gut. O.k., ich bin im nächsten Jahr dabei! Warren will unmittelbar nach unserer Abreise mit dem Training beginnen.

Start in Pietermaritzburg
Start um 6:00 Uhr bedeutet, um 3:00 Uhr zu frühstücken und um 3:45 Uhr zum Start nach Pietermaritzburg aufzu- brechen. Neville, Patron des Chelsea Villa Guesthouse in Durban, fährt unsere kleine Gruppe mit einem großen Bus zum Start. Ich begleite die Gruppe und beobachte später den Start. Teilnehmer unserer Gruppe ist u.a. Horst Preisler, der im Jahr 2000 beim Berlin Marathon als erster Mensch zum 1.000 Mal einen Marathon beendet. Inzwischen ist Horst 73 Jahre alt, hat mehr als 1.600 Marathons beendet und ist noch immer unterwegs. Die Intensität gemeinsamer Comrades-Erlebnisse hat mehrere Freundschaft gestiftet, darunter auch  mit Horst.
Pietermaritzburg liegt ca. 80 km von der Küste entfernt in Richtung der Drakensberge,  wo jetzt auf den bis über 3.000 m hohen Bergen Schnee liegt. Im Laufe des Tages werden die Temperaturen zwar auf 25-30 Grad ansteigen, aber auf der südlichen Halbkugel ist Winterzeit, und die Temperatur liegt nur wenig über Null Grad. Vor der Kühle schützen sich die Läufer mit alter Kleidung. Sobald sie sich auf der Strecke warmgelaufen haben, werden sie ihre wärmende Bekleidung fortwerfen bzw. an die bereits darauf wartenden Zuschauer aus den Armenvierteln übergeben. Das Start wird sehr feierlich zelebriert. Unmittelbar vor dem Start singen und beten viele Läufer, sie umarmen sich und wünschen "good luck". Der Hahn kräht und ein Böllerschuss ertönt. Das Abenteuer  beginnt, der Ausgang ist offen.

Die Morgendämmerung beginnt. Bei Sonnenaufgang erhöht sich der ohnehin hohe Adrenalinspiegel und versetzt die Läufer in eine euphorische Stimmung. Während die Läufer die Strecke unter ihre Füße nehmen, fahre ich erst einmal mit dem Bus zurück nach Durban und frühstücke gemeinsam mit den Begleitern der Läufer. Das Fernsehen informiert uns laufend über die Entwicklung des Rennens. Als Top-Ereignis wird der Comrades nicht nur in der vollen Länge life übertragen, sondern nahezu jeder Südafrikaner schaut sich auch die Übertragung an. Das öffentliche Interesse erscheint uns unglaublich. Jeder ist informiert und bringt gegenüber den Teilnehmern, die das Ziel in der Sollzeit erreicht haben, Hochachtung und Respekt zum Ausdruck.

Die Läufer haben bereits mehr als 1/3 der Strecke und zwei der "Big Five" absolviert. Inzwischen wird es immer wärmer. Gisela nähert sich der Halbzeitmarke bei Drummond, wo eine erste vorsichtige Prognose möglich wird. Die nicht laufenden Begleiter sind mit Neville an die Strecke bei Hill Crest gefahren, etwa 30 km vor dem Ziel bzw. 58 km hinter dem Start. Wir sind früh an der Strecke und sehen die Spitze vorbeifliegen. Wir wollen jedoch vor allem unsere eigenen Helden begrüßen, anfeuern und bewundern. Mit einem kleinen Fernglas halte ich Ausschau und entdecke Gisela. 5:57 Std. für 58 km, Respekt! "Es ist schwer!", ruft sie und ist dann schon vorbei. Falls sie das Tempo halten kann, ist eine Endzeit von wenig über 9 Std. zu erwarten. Da es ab hier überwiegend bergab geht, ist vielleicht auch noch mehr möglich.

Hinsichtlich der Frage, ob die Strecke "up" oder "down" leichter oder schwerer ist, sind die Meinungen abhängig vom Läufertyp geteilt. Ohne eigene Erfahrungen auf der Down-Strecke ist eine Einschätzung schwierig.

Gegen Mittag fahren wir zum Zielbereich, ein Football-Stadion in Durban. Andrew Kelehe aus Südafrika ist bereits in 5:25 Std. als Erster eingelaufen. Nach etlichen Jahren siegt wieder ein Südafrikaner und löst eine grenzenlose Begeisterung aus. Als die Fernsehübertragung diesen möglichen Ausgang andeutet, strömen die Menschen auf die Straßen, um den Sieger persönlich zu begrüßen und zu feiern. Delia und Warren, unsere Gastgeber vom Roseland House, berichteten später, dass sie vor Ergriffenheit geweint haben. So dürfte es vielen ergangen sein.

Im Unterschied zum Jubiläumslauf des vergangenen Jahres beträgt die Sollzeit wieder 11 Stunden. Nach 10 Stunden ist Gisela noch nicht eingetroffen. Das ist kein gutes Zeichen und macht mich besorgt. Dann endlich, nach 10:25 Std. ist sie im Ziel. Ich bin unendlich erleichtert und freue mich riesig. Aber was war los? Ein starker Leistungseinbruch im letzten Drittel und extreme Schmerzen in der Oberschenkel- muskulatur haben zunehmend Gehpausen erzwungen. Auf den letzten 9 km konnte Gisela nur noch gehend das Ziel erreichen. Meine Dehydration im Vorjahr hat sie außerdem zu einer übermäßigen Flüssigkeitsaufnahme verleitet, weshalb auch noch viele Stopps notwendig waren.

Das Ergebnis hätten wir uns gerne etwas triumphaler gewünscht. Die Leistung, die Gisela erbracht hat, wird davon nicht beeinträchtigt, sondern ist im Gegenteil noch höher zu bewerten als bei einem Triumphlauf. Diese Leistung verdient größten Respekt und erfüllt mich mit Stolz auf meine tapfere Frau. In der englischen Sprache bezeichnet man diese Menschen als "tough", was nicht angemessen in deutsche Sprache zu übersetzen ist. Well done, the lady!






Nachbemerkungen
Nach dieser extremen Leistung hat es einige Wochen gedauert, bis die Muskelatur beschwerdefrei war und das Lauftraining wieder aufgenommen werden konnte. In der zweiten Jahreshälfte hat Gisela zwei Läufe über 50 km bestritten (darunter den schweren Kurs der Schwäbischen Alp) und konnte die Marathonläufe von Monschau, Mergelland (NL), Chicago, Rursee und Arolsen erfolgreich absolvieren. Mit Ausnahme des Chicago Marathons handelt es sich um anspruchsvolle Strecken, auf denen Gisela drei Mal unter vier Stunden geblieben ist. Chapeau!

Im Folgejahr war eine seit mehreren Jahren hinausgezögerte Fußoperation nicht länger zu vermeiden. Die Operation machte nach Abschluss des Heilungsprozesses einen langfristig angelegten Trainingsaufbau erforderlich. Mit starker Motivation erreichte Gisela ab Mai 2003 ihr Leistungsniveau und konnte eine Reihe neuer Bestzeiten realisieren.

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