Freitag, 16. Oktober 1998

Ultra Europacup 1998/99 - Die Nummer 1254 lebt!

Nach Zieleinlauf im Alb Marathon
Der Alb Marathon ist gemäß deutschem Sprachgebrauch tatsächlich kein Marathon, sondern liegt mit der Distanz von 50 km an der Schwelle zum Ultralauf. Mit mehr als 1.000 m Höhendifferenz des Kurses gilt der Alb Marathon als schwerer Kurs und zieht insbesondere Bergspezialisten an. Ich bin kein Bergspezialist, laufe aber gerne profilierte Strecken und stelle mir daher als Ergebnis eine Zeit unter 5 Stunden vor. Beim Anblick dieser durch Erosion entstanden Bergkegel des Stauferlandes kommen ernste Zweifel an dieses Vorhaben auf. Der Kurs führt nämlich über die Gipfel der drei markanten "Kaiserberge" Hohenstaufen (684 m), Rechberg (707 m) und Stuifen (757 m). Für Gisela ist nur der Rechberg relevant, weil sie an dem Rechberglauf über 10,5 km teilnimmt.



Foto von Volker Gringmuth (lizensiert unter unter der Creative Commons-Lizenz Namensnennung-Weitergabe unter gleichen Bedingungen 3.0 Unported)

Vor dem Lauf

Der Lauf liegt in den Herbstferien, so dass wir 2 Tage vor dem Start anreisen, um uns mit der Landschaft und der Strecke vertraut zu machen. Bei wunderschönem Herbstwetter fahren wir die Strecke mit dem Auto ab (soweit das möglich ist) und gehen vor allem zu Fuß bis auf die Gipfel der drei Kaiserberge, deren Anstiege uns tief beeindrucken. In einem Streckenintervall von ca. 15 km befinden sich gleich drei Hammeranstiege. Wie die Kaiserberge im Laufschritt bewältigt werden können, entzieht sich unserer Phantasie. Die Streckenabschnitte vor und hinter den Kaiserbergen sind auch nicht zu verachten. Insgesamt enthält der Kurs 6 signifikante Anstiege, die man natürlich auch wieder runter muss. Das stimmt mich für den Rest des Tages ziemlich nachdenklich. Heute Abend gibt es jedenfalls kein Bier oder Wein, sondern Apfelsaftschorle. Am Abend studiere ich ausführlich den Streckenplan und versuche ihn mir möglichst genau einzuprägen. Taktisch beabsichtige ich, bis auf den 3. Gipfel der Kaiserberge (Stuifen) betont defensiv zu laufen, um dann schauen, was noch möglich ist.


 Das Lauferlebnis
Vor dem Start treffen wir Ingeborg und Helmut Urbach, die hier ebenfalls das erste Mal starten und natürlich die 50 km laufen.
Der Rechberglauf, an dem Gisela teilnimmt, startet vor dem Öauf über 50 km. Der Strecke führt in einem langen und zuletzt sehr steilen Anstieg auf den Gipfel des mittleren der drei Kaiserberge, auf dem sich das Ziel befindet. Für den Rückweg stehen Busse bereit. Gisela ist bekanntlich keine Bergziege, aber sie schlägt sich gut und wird mit ihrer Zeit von 1:05 Std. Zweite ihrer Altersklasse. Die Familienehre ist damit schon gesichert und mit einer Medaille dokumentiert.
 
Die ersten 5 von 50 km führen durch das Remstal auf flacher Strecke aus der Ortschaft Schwäbisch Gmünd heraus. Zum Einlaufen gerade richtig, ehe es auf den folgenden 35 km fast ununterbrochen bergig wird. Neben mir taucht Helmut Urbach auf. Wir plaudern ein wenig, aber mein Tempo ist ihm zu langsam. Obwohl mein eigenes Körpergefühl gut ist, lasse ich Helmut abziehen und halte mich vorerst betont zurück.

Der erste größere Anstieg nach Wäschenbeuren gibt einen guten Vorgeschmack auf das, was uns noch erwartet. "Ist das bereits der Hohenstaufen?", höre ich einen Läufer fragen. Nein, natürlich nicht, es ist nur etwas zum Üben. Zunächst verlieren wir wieder etwas an Höhe, bis wir etwa ab km 13 mit dem Hohenstaufen den ersten der drei Kaiserberge erklimmen. Über 5 km haben wir ca. 300 m Höhendifferenz zu bewältigen. Die Steigung ist nicht gleichmäßig, sondern ein Wechsel zwischen beeindruckenden Rampen und weniger steilen Abschnitten, um dann am letzten Anstieg zum Gipfel noch einmal extrem steil zu werden. Hier ziehe ich es vor zu gehen, um mich nicht zu früh zu verausgaben. Ca. 200 m unterhalb des Gipfelpunktes kommen uns auf einem Abschnitt mit Gegenspur die schnelleren Läufer entgegen. Unter ihnen erkenne ich auch Helmut Urbach. "Respekt", sage ich mir, "er scheint sehr stark zu sein".

Nun geht es steil bergab auf den Aasrücken. Etliche Läufer, die hier wohl wieder Boden gutmachen wollen, knallen an mir vorbei. Ich halte mich auch hier lieber zurück, um meine Oberschenkelmuskulatur zu schonen. Auf dem relativ flachen Abschnitt der nächsten 4 km können wir uns etws erholen und den bereits drohend vor uns liegenden Rechberg studieren. Auf dem kurzen und darum umso steileren  Anstieg zum Gipfel sind etwas weniger als 200 m Höhenmeter zu überwinden. Die asphaltierte Straße hat eine ziemlich gleichmäßige Steigung, auf der ich einen guten Rhythmus finde, um bis zum Gipfel durchlaufen zu können. Ich belohne mich etwas ausgiebiger an der Verpflegungsstelle und denke an Gisela, die vor einigen Stunden ebenfalls hier eingelaufen ist. Steile Ansteige liegen ihr weniger. Wie mag es ihr ergangen sein? Inzwischen dürfte sie bereits wieder zurück in Schwäbisch Gmünd oder zumindest auf dem Rückweg sein, während ich auf dem Rechberg Halbzeit habe.

Den Rechberg verlassen wir über einen kurzen und wieder sehr steilen Abschnitt, der ohne größeren Flachabschnitt in den Anstieg zum Stuifen übergeht, dem letzten und höchsten der drei Kaiserberge. Die Strecke verläuft zunächst über einen relativ komfortabel ansteigenden Weg längs des Bergrückens bis zur Rückseite des Berges. Dort zweigen wir auf den Gipfelanstieg ab, der in steilen Serpentinen auf einem schmalen und teilweise rutschigen Waldweg steil in die Höhe führt. Ein Überholen ist hier nur in Kurven möglich oder wenn vorauslaufende Läufer den Weg freigeben. Plötzlich erkenne ich Helmut Urbach nicht weit vor mir. Ich bin schnell zu ihm aufgelaufen. Wir wechseln ein paar Worte, aber sein spezieller Humor, der nicht von allen geliebt ist, hat ihn vorübergehend verlassen. Ich werte das als ein deutliches Zeichen dafür, dass es ihm nicht gut geht und ziehe an ihm vorbei. Abwechselnd laufend und gehend erreiche ich endlich das Gipfelplateau, wo es zunächst flacher wird, ehe wir uns wieder in die Tiefe stürzen. 

Am Fuß des Stuifen befindet sich eine Verpflegungsstelle, die jetzt gerade richtig kommt. Wer nun glaubt, dass die Schwierigkeiten hinter ihm liegen, hat sich getäuscht. Nach einer nur kurzen Flachapassage geht es zunächst in Richtung Reiterles Kapelle und dann geradewegs auf den Gipfel des Schwarzhorn. (In den Folgejahren lässt die Strecke den Gipfel aus und umrundet lediglich das Schwarzhorn.) Diese Schikane tut jetzt richtig weh. Damit aber nicht genug. Um auf 50 km zu kommen, dürfen wir nach dem Schwarzhorngipfel auf einer Wendepunktstrecke ca. 1 km in ein Tal laufen und den Höhenverlust auf dem Rückweg wieder gutmachen. Die Streckenorganisatoren scheinen eine sadistische Veranlagung zu haben und wollen uns foltern. Etliche Läufer sind inzwischen zu Gehern mutiert.

Die nächsten 3 km geht es bis Waldstetten erst einmal bergab. Ich verspüre Erholung und kann nun auch Beschleunigen. Bei Straßdorf erreichen wir den letzten signifikanten Anstieg von ca. 1 km Länge. Viele Läufer nehmen den Anstieg gehend, während ich an ihnen vorbeiziehe. Bei Straßdorf mündet die Strecke in die "Klepperlestraße", eine inzwischen asphaltierte Trasse der ehemaligen Hohenstaufenbahn. Bis zum Ziel in Schwäbisch Gmünd sind noch 8 km zu laufen, die bis auf den letzten Kilometer über die sanft abfallenden Trasse führen. Ein Blick auf die Uhr sagt mir, dass eine Zeit unter 5 Stunden möglich ist, wenn ich mich lang mache und nichts Ungewöhnliches passiert.

Offensichtlich ist es mir gelungen, genug Körner für den Rückweg aufzuheben. Ich komme ins Rollen und laufe jetzt einen gleichmäßigen Schnitt von 5 min/km. Es dauert nicht lange, bis sich hinter mir ein Pulk von mehr als 10 Läufern bildet. Sie wollen natürlich alle unter 5 Stunden bleiben und merken, dass ich noch Kraft habe und ein gleichmäßiges Tempo laufe. So einen Zug benutzen sie gerne für ihre Reise und überlassen mir die Führungsarbeit. Ich spüre, dass noch etwas geht und teste den Tross hinter mir, indem ich allmählich weiter beschleunige. Jetzt können nicht mehr alle mithalten. Die ersten müssen abreißen lassen. Der Pulk wird kleiner. 4 km vor dem Ziel spiele ich an der letzten Verpflegungstelle meinen Joker und laufe ohne Getränkeaufnahme an der Versorgung  vorbei. Damit haben sie nicht gerechnet. Ich bin sie los. Nein, nicht ganz. Einer der Pulkkameraden setzt nach und schafft wieder den Anschluß. Ich lasse ihn herankommen und beschleunige, sobald er mich erreicht. Es tut sich gleich wieder eine Lücke auf. Aber der Bursche ist zäh und kommt zurück. Ich wiederhole das Spiel noch einmal, jedoch vergeblich. Er hat sich festgebissen. Ich ändere jetzt meine Taktik und will meine Kräfte auf ein langes Finish konzentrieren. Ein paar Reservekörner habe ich nämlich noch aufbewahrt.

Als spurtschwacher Läufer will ich es nicht auf einen Sprint ankommen lassen. Gut 1 km vor dem Ziel ziehe ich das Tempo an und halte es konstant hoch. Ja, ich bin ihn los. Nachlassen darf ich aber nicht und laufe jetzt am Anschlag. Ein Zuschauer, der mit seinem Rennrad an der Strecke steht, sieht mich alleine auf weiter Flur heranjagen und ruft mir zu: "Die Nummer 1254 lebt!"
In der Tat, selten war ich so lebendig. Am Ortsrand von Schwäbisch Gmünd wird der Kurs eckig, dann biege ich in die Schwerzerallee ein, auf der das Ziel liegt. Auf der Zielgeraden von ca. 200 m Länge bin ich alleine unterwegs. Der Sprecher kündigt mich an. Aus dem Zuschauerspalier kommt viel Applaus entgegen, mein Applaus. Ich halte das Tempo so hoch wie möglich. Unmittelbar vor dem Zielkanal erwartet mich Gisela und winkt mir zu. Im Ziel zeigt die Uhr 4:50:52 Std. Laufzeit. Den Erfolg werden wir am Abend feiern!







Nachbemerkungen
Die Erschöpfung ist bald überwunden. Ergebnis und Verlauf sind für mich mehr als akzeptabel. Mit Platz 215 von 533 konnte ich mich im vorderen Mittelfeld unter Bergspezialisten platzieren, die hier vor allem antreten. Helmut Urbach, den ich bei km 30 überholt habe, kommt 31 Minuten nach mir ins Ziel. Ein "Hungerast" habe ihn überfallen, berichtet er später.

Jürgen Wieser, inzwischen elffacher Sieger des Albmarathon, war auch 1998 als erster im Ziel mit einer Zeit von 3:15:39 Uhr. Eine fast unglaubliche Leistung für 50 km auf diesem schweren Kurs. Mit 3:12:47 hält Jürgen Wieser auch den Streckenrekord seit dem Jahr 1999.

An Stätten eines Erfolges kehrt man gerne zurück. In den Folgejahren werden wir hier noch mehrmals starten. Gisela und ich laufen in den Jahren 2000 und 2001 die 50 km gemeinsam.

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