Der preußische General Carl von Clausewitz postulierte im 19. Jahrhundert: "Jede strategische Planung reicht bis zur ersten Feindberührung. Danach ist alles ein System von Aushülfen." Im Unterschied zum Jahr 2001 ist unser Feind nicht politischer Art. Das Leben ist in einer Art und Weise mit nicht planbaren Ereignissen verschränkt, die nicht kausal erklärbar sind. „Das Schicksal mischt die Karten und wir spielen“, sagte Arthur Schopenhauer. So muss es wohl auch bei dieser Planung gewesen sein. Ein Sterbefall in der Familie zwingt H+W kurzfristig zur Absage. Das ist zwar unerfreulich, aber nicht verhandelbar und kann darum nur hingenommen werden. Immerhin können wir uns auf diese veränderte Situation bereits vor der Reise einstellen. In den USA werden wir erkennen, dass uns eine Reihe weiterer unangenehmer Überraschungen erwartet.
Das Hotelabenteuer am Anreisetag
Bei unserer Ankunft am späten Abend in Chicago haben wir zunächst Stress mit dem Mietwagenverleiher zu überstehen, bis wir uns auf dem Weg zum Hotel machen können. Wir haben eine Übernachtung in der Nähe des Flughafens gebucht und wollen uns erst morgen auf den Weg nach Traverse City begeben. Das Hotel finden wir erst, nachdem wir eine Stunde durch die nächtlichen Vororte geirrt sind, unwissende Tankstellenbetreiber interviewt haben und inzwischen auch einen Stadtplan erstehen konnten. Im Hotel stellt sich heraus, dass das verbindlich gebuchte Zimmer nicht mehr verfügbar ist. Schuldbewusst vermittelt uns die Dame an der Rezeption eine Alternative "quite near, just around the corner".
Obwohl wir heute daran nicht interessiert sind, lernen wir am späten Abend eine Lektion über die kulturellen Unterschiede der gefühlten Dimensionen unbestimmter Entfernungsangaben. Erneut irren wir durch die Nacht und fahren entnervt noch einmal zurück zum ausgebuchten Hotel, um uns den Weg genauer beschreiben zu lassen. Damit treffen wir offenbar eine Schwachstelle dieser Dame. Für die Routenbeschreibung muss sie erst Verstärkung anfordern. Schließlich finden wir tatsächlich das Ausweichhotel in ca. 10 km Entfernung. Diese Distanz als "quite near" zu bezeichnen, wäre uns nicht eingefallen. Inzwischen ist es bereits nach Mitternacht. In Deutschland ist der Tag schon 7 Stunden weiter.
Alles Sepsis oder was?
Gisela merkt natürlich, dass meine Nerven blank liegen und macht mich darum nur äußerst vorsichtig auf Beschwerden in ihrem rechten Fuß aufmerksam. Zu sehen ist äußerlich nur ein kleiner geröteter Herd. Die Schmerzen nehmen zu, wir brauchen medizinische Hilfe.
In Traverse City wenden wir uns gleich morgens nach der Öffnung an das Tourist Office. Die älteren Herrschaften zeigen sich äußerst engagiert und diskutieren zunächst untereinander die Vor- und Nachteile verschiedener Optionen, ehe sie uns an ein Medical Health Center verweisen. Im Ergebnis stellt sich jedenfalls heraus, dass es sich um einen Abszess mit unbekannter Ursache handelt. Um die Entwicklung einer Sepsis zu vermeiden, wird der Entzündungsherd herausgeschnitten und gereinigt. Kulturen werden angelegt, damit ein gezielter Einsatz von Antibiotika möglich wird. Jeweils morgens und abends ist der Fuss für Kontrolluntersuchungen vorzustellen. Tagsüber badet der Fuß in Desinfektionslösungen. So haben wir uns diesen Urlaub nicht vorgestellt! Gisela spricht bereits von Abbruch. Nein, diese Erfahrung brauche ich nicht schon wieder. Die medizinische Versorgung ist gut und begründet keinen Abbruch.
Einer der behandelnden Ärzte ist Dennis Hartwall. Er outet sich als ehemaliger Runner "before I became fat" und hat als Student am Chicago Marathon teilgenommen. Dennis zeigt sich besonders engagiert. Als die Entzündung nach 3 Tagen abzuklingen beginnt, macht er uns Hoffnung auf eine kleine Chance der Teilnahme. Nach dem Marathon ruft er sogar im Hotel an, um zu erfahren, ob die Teilnahme gelungen ist. Um es vorwegzunehmen: Nein, der Marathon war für Gisela unerreichbar.
Old man lament
Im Hinblick auf den Chicago Marathon dominierte mich zunächst eine orthopädische Problematik. (Erst nach Chicago sollte sich bestätigen, dass meine Leistungsfähigkeit inzwischen auch kardiologisch eingeschränkt ist.) Nach Ruptur und Refixation der Quadrizipssehne des linken Knies im Jahr 2003 habe ich den Zeitraum bis zur Wiederherstellung einer hohen Laufbelastung völlig unterschätzt. In der Folgezeit wird sich zeigen, dass die ursprüngliche Belastbarkeit nicht wieder aufgebaut werden kann. Das wusste ich zu diesem Zeitpunkt noch nicht und bin aufgrund optimistischer Prognosen der Operateure davon ausgegangen, dass der Chicago Marathon erreichbar sei. Tatsächlich konnte ich in der Vorbereitung nicht auf die für einen Marathon notwendige Trainingsbelastung steigern. Halbmarathon traue ich mir zu und könnte dann aussteigen, um Gisela im Ziel zu empfangen. Auch dieser Plan geht nun nicht mehr auf.
Wenn ich Juppy freundschaftlich als "Kampfschwein" bezeichne, ehre ich seine kämpferischen Qualitäten, die er in mehr als 100 Marathonläufen und etwa einem halben Hundert Ultraläufen ausgebildet hat, ohne jemals dem inneren Schweinhund durch Aufgabe nachzugeben! Die Bestleistungen von mehr als 202 km in einem Lauf über 24 Stunden und eine Zeit von 8:50 Std. über 100 km sind absolut beachtlicht und in seiner Altersklasse erstklassig. Orthopädische und allgemeine gesundheitliche Probleme haben jedoch im Jahr 2005 kein reguläres Training zugelassen. Auch Juppy reist ohne die Hoffnung nach Chicago, seinen 90. Marathon durchzustehen.
Chicago vor dem Marathon
In Chicago sind wir wieder im offiziellen Marathonhotel Hilton Towers abgestiegen. An der Außenwand des Hotels sind auf großen Tafeln die Namen aller gemeldeten Teilehmer in alphabetischer Reihenfolge angebracht. Wir finden uns schnell.
Der Freitag ist regnerisch und kühl. Ein morgendlicher Jog am Lake Michigan muss schon sein, wenn wir hier sind. Gisela kann wegen ihrer Beschwerden nicht mitlaufen. Nach dem Frühstück in der Corner Bakery holen wir unsere Startunterlagen ab und bummeln durch die Stadt. Den Samstag beginnen wir mit dem gleichen Programm. Das Wetter ist noch immer kühl, verschont uns aber mit Regen.
Im Unterschied zum Jahr 2001 nimmt Juppy heute am stimmungsvollen Pasta Dinner im Hotel teil. Das Essen ist recht gut und es werden sogar Sekt und Wein gereicht. Wir sitzen an großen Runden Tischen und kommen schnell ins Gespräch mit zwei Amerikanerinnen, von denen die eine aus Minnesota und die andere aus Washington D.C. kommt. Die Männer am Tisch kommen aus Kanada und nehmen an ihrem ersten Marathon teil. 3:10 Std. erwarten sie zu laufen. Hoffentlich werden sie nicht enttäuscht.
Bei uns kommt nicht die rechte Begeisterung auf. Gisela sagt definitiv ihre Teilnahme ab. Juppy und ich werden antreten und wollen schauen, was machbar ist.
Race Day
Gisela begleitet uns zum Start. Ein paar Fotos werden noch geschossen, ehe wir uns zum Start aufstellen. Nach außen versuchen wir Optimismus zu zeigen. Juppy trägt auch heute das Trikot seines Hauptsponers, mit dem er 2001 glänzen konnte. Die Wetterbedingungen sind gut, bedeckt und trocken mit Temperaturen um 10 Grad. Sonnig wird es erst ab dem Mittag. Wir stellen uns im Feld der 35.000 Teilnehmer hinten auf und wollen vorerst gemeinsam laufen, solange es passt.
Juppy hat eine kleine Kamera dabei und fotografiert auf der Strecke. Insgesamt läuft es bei uns besser als wir erwarten durften. Die Ausstiegsoption nach ca. 20 km nehmen wir nicht wahr. Vielleicht ist ja die Strecke zu schaffen. Den Versuch wollen wir zumindest wagen.
Unser Meilenschnitt liegt zwischen 10:15 - 10:30 Min., was 6:30 Min./km entspricht. Die Halbmarathonmarke erreichen wir gemeinsam nach 2:18 Std. und bleiben weiter zusammen. Ab 30 km zwingen mich Kniebeschwerden und das fehlende Training langsamer zu werden. Mein Lauf wird unrhythmisch. Es ist für uns beide besser, wenn wir nun getrennt laufen.
Zur Entlastung gönne ich mir einige Gehabschnitte. Ab 35 km muss ich das Laufen einstellen und strebe dem Ziel nur noch gehend entgegen. Meine Hochrechnung besagt, dass mein Zeitpolster ausreicht, um auch gehend noch unter 5 Stunden zu bleiben, wenn ich ein Tempo von 10 Min./km erreiche. 7 km bin ich noch nie in einem Wettkampf gegangen, auch nicht bei Ultraläufen. Heute ist es so weit.
Nach vermeintlich endloser Wanderung komme ich endlich in den Zielbereich. Am Anfang des Zielkanals kann ich Gisela in ihrem roten Anorak ausmachen und gehe zu ihr. Wir sind beide erleichtert und tauschen schnell ein Küsschen aus. "Juppy ist bereits durch", ruft Gisela mir noch zu. "O.k., wir sehen uns hinter dem Ziel."
Meine Endzeit wird mit 4:52:40 Std. gestoppt. 34 Min. habe ich auf der zweiten Hälfte länger gebraucht, aber das ist heute egal. Entgegen der Erwartung konnte ich heute zum dritten Mal in Chicago finishen. Nur das zählt heute. Mit Platz 24.120 von 33.003 Finishern lasse ich noch 8.883 Läufer hinter mir. Eine Größenordnung von über 8.000 Läufern erreichen in Deutschland nur 3 Veranstaltungen. Juppy treffe ich am Kleiderzelt. Wir sind glücklich und umarmen uns. 4:28 Std. hat Juppy für den 90. Marathon benötigt und auf der zweiten Hälfte 8 Minuten gewonnen. Mit Platz 18.136 von 33.003 liegt Juppy im Mittelfeld. Well done, Chapeau!
Am Zielausgang erwartet uns Gisela. Wir besorgen uns ein Bier und stellen uns noch eine Weile auf die Zieltribüne. Tanzen können und wollen wir heute nicht. Am Abend werden wir unsere Transformation vom Teilnehmer zum Finsher und das 90. Marathon-Jubiläum gebührend feiern. Auf die Teilnehmerliste am Hotel kann ich jetzt mit Stolz schauen.
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