Montag, 17. Juni 2002

77. Comrades 2002 - Wenn das Schwere leicht ist - THE ULTIMATE HUMAN RACE Reloaded

Der Lauf der Läufe - Rockin' in SA
Es fiel nicht schwer, meinen Lauffreund Josef als Begleiter zu gewinnen. Vor zwei Jahren haben wir gemeinsam das Abenteuer des Comrades gesucht und nicht nur gefunden, sondern am südlichsten Zipfel Afrikas den Lauf der Läufe entdeckt. Im vergangen Jahr hatte Gisela ihr Schmerzerlebnis auf der Down-Strecke, während mir verletzungsbedingt ein Start verwehrt geblieben ist. In diesem Jahr laufen wir wieder den Up Run, an den ich noch äußerst intensive und nicht nur positive Erinnerungen habe. Mein Optimismus ist in diesem Jahr kleiner als im Jahr 2000. Am 11. Mai habe ich mir beim Sänftenträgerlauf im bergischen Land erneut Muskelfaserrisse zugezogen, was mich in der Vorbereitung weit zurückwarf. Ich stelle mich darauf ein, in der Nähe des „Cut-off“ von 11 Stunden zu finishen, falls meine Muskulatur überhaupt durchhält. Jusef ist ebenfalls angeschlagen und möchte ebenso ohne Zeitambitionen lediglich finishen.
In Durban wohnen wir wieder im Roseland House bei Delia und Warren Lloyd, wo wir uns fast schon wie Familienmitglieder fühlen. Delia und Warren sind erfahrene Comrades Runner. Sie ahnen natürlich, was in uns vorgeht und können sich auf unsere Bedürfnisse bestens einstellen. Warren hat im letzten Jahr angekündigt, in diesem Jahr wieder mitzulaufen, wenn ich ebenfalls dabei bin. Nun bin ich hier, und Warren enttäuscht mich mit dem Geständnis, dass er sein Versprechen nicht umsetzen konnte.
Bärbel und Lothar aus Leipzig sind ebenfalls wieder vor Ort. Wir kennen uns bereits aus den beiden Vorjahren und pflegen inzwischen freundschaftliche Beziehungen. Die Tage vor dem Wettkampf gestalten wir gemeinsam und geraten bei einem Ausflug in die Drakensberge in einen denkwürdigen Zwischenfall.

Intermezzi



Den internationalen Teilnehmern wird eine geführte Streckenbesichtigung angeboten, die wir uns natürlich nicht entgehen lassen. An einigen Highlights sind Zwischenstopps obligatorisch, z.B. an der "Wall of Honour", an der alle bisherigen Gewinner mit einer persönlichen Plakette geehrt werden. Die deutschen Sieger, Charly Doll, Maria Bak und Birgit Lennartz finden wir schnell. In Pietermaritzberg zählt der Besuch des Comrades Museums zum Programm, ehe vor der Rückfahrt noch Kaffee und Kuchen im Zielbereich auf uns warten.
Drei Tage vor dem Lauf ist mit Bärbel und Lothar ein Tagesausflug in die Drakensberge geplant. Mit einem gemieteten allradgetrieben Geländefahrzeug wollen wir über den Sani-Pass nach Lesotho fahren.


An der Grenzstation erfahren wir, dass wegen der Schneeverhältnisse bereits seit einigen Tagen kein Fahrzeug über den Pass gekommen sei. Einige hätten es zwar versucht, aber sie seien gescheitert. Diese Versuchsreihe wollen wir nicht fortsetzen und fahren statt dessen in Richtung Giant's Castle. Kurz vor Einbruch der Dunkelheit müssen wir für die Rückfahrt tanken und steuern eine der in diesem Gebiet seltenen Tankstellen an. Das Fahrzeug ist als Dieselfahrzeug übergeben worden, weshalb wir selbstverständlich Diesel einfüllen. Nicht spontan, aber schlussendlich müssen wir uns der Erkenntnis beugen, einem Irrtum zu unterliegen. Die Maschine verlangt nach Petrol und streikt aus verständlichen Gründen. Was können wir tun?
Der Tankwart zeigt sich äußerst hilfsbereit und ruft einen Freund an, der ein Experte sei. Beide versuchen, den Treibstoff abzulassen, was jedoch nicht gelingt. Nun ist es auch schon fast dunkel. Die Tankstelle ist bereits geschlossen und der Tankwart hat offiziell Feierabend. Trotzdem nimmt er die Verhandlung mit der Leihwagenfirma auf, die darauf besteht, dass wir das Fahrzeug bewachen, bis ein Werkstattfahrzeug eintrifft, was aber erst am nächsten Tag möglich sei. Das wollen wir nicht akzeptieren und lassen uns die Telefonnummer des General Managers in Johannisburg geben. Unser Tankwart schlägt ihm vor, das Fahrzeug im eingezäunten und verschlossenen Gelände der Tankstelle unbewacht abzustellen. Der General Manager stimmt nach zähen Verhandlungen zu. Wie kommen wir zurück nach Durban?
Unser Tankwart bietet an, uns zu dem 1/2 Autostunde entfernten Nottingham Road Hotel zu fahren, wo wir übernachten oder uns abholen lassen können. Getan wie gesagt sowie inzwischen mit unseren Guesthouse-Inhabern telefoniert, die uns abholen werden und sich sofort auf den Weg machen. Um 20:00 Uhr kommen wir an dem Hotel an und verabschieden uns von diesem großartigen Helfer. Die angebotene Honorierung lehnt er strikt ab, was uns in eine unangenehme Schuld bringt, die wir nicht begleichen können. Ein Stärkung können wir jetzt brauchen. Während wir essen, treffen Neville und Warren um 21:00 Uhr ein. Wir sind gerettet, geraten aber erneut in die Schuld großzügiger Hilfsbereitschaft. Nach 2 Stunden Rückfahrt haben wir das Abenteuer endgültig überstanden. Von der Mietwagenfirma haben wir nichts mehr gehört, nicht einmal zur Begleichung der Mietrechnung ist es gekommen, was jedoch unser Gewissen in diesem Fall nicht belastet.

Race Day  
Ca. 12.000 Läufer befinden sich am Start. 150 Läufer kommen aus Ländern außerhalb Afrikas, darunter 24 Deutsche. Mehr als 3.100 Läufer werden auf der Strecke bleiben bzw. nicht innerhalb der Sollzeit finishen. 
Im Startraum werden wir mit Musik und Ansagen eingestimmt. Die Atmosphäre ist eher feierlich als euphorisch. Kurz vor 6.00 Uhr wird es neben mir unruhig. Ich drehe mich um und erkenne Bruce Fordyce, „Mister Comrades“, mit 9 Siegen ein absoluter Volksheld! Er läuft heute zum 20. Mal, das bedeutet hier „Running for double-green“. Kurz darauf ertönt der traditionelle Hahnenschrei, ehe das Rennen um Punkt 6.00 Uhr morgens mit einem Böllerschuss gestartet wird. Die Temperatur beträgt angenehme 15 Grad. 
Obwohl es noch dunkel ist, stehen Tausende an der Schnellstraße, die uns stadtauswärts führt. Viele Schwarze aus den Armutsvierteln machen Jagd auf die abgelegten oder während des Wamlaufens weggeworfenen Kleidungsstücke. Ich beginne sehr vorsichtig und werde bis Tollgate am Rande der Innenstadt bereits in den hinteren Teil des E-Blockes durchgereicht, was ich auch erwartet habe. Jeder Kilometer ist gut sichtbar (absteigend!) markiert, so dass es keine Probleme mit der Einstellung des Tempos gibt. Ich laufe etwas über 6 Min/km und bin damit zufrieden.
Inzwischen begrüßt uns auch der neue Tag. Ausgeruht und mit hohem Endorphinspiegel nehmen wir im Sonnenaufgang den ersten langen Anstieg nach Cowie´s Hill, der keine ernsten Probleme bereitet. Die nachfolgende Gefällstrecke nach Pinetown verführt zu überzogenem Tempo, zumal dort bereits Tausende Zuschauer die Läufer anfeuern. Zum Angreifen ist es aber viel zu früh. Geduld ist jetzt wichtiger. Bald folgt der längster Anstieg der Strecke nach Field´s Hill. Wir haben unseren Rhythmus gefunden, allen geht es gut. Viele Menschen sind an der Strecke. Die Stimmung ist euphorisch. Die Läufer rocken die Menge. Erkennbar durch meine Startnummer und ein kleines Fähnchen an der Mütze werde ich laufend als „International“ oder als „German“ begrüßt: „Welcome in South Africa! Enjoy the race! Guten Morgen, Deutschland! All the best!“ Inzwischen ist auch der Scheitelpunkt erreicht. Die Entlastung im Gefälle nach Hill Crest ist nur kurz, bis der Dritte der „Big Five“, Botha´s Hill, vor uns liegt. Mir geht es immer noch gut, mein Optimismus wächst. Ich genieße den landschaftlich schönsten Teil der Strecke, das „Valley of 1000 Hills“. Auf der linken Seite sehe ich auf einem Hügel den hohen, schlanken Sendemast: Halfway liegt vor uns.
Bisher habe ich alles unter Kontrolle und bin entschlossen, heute den Abschnitt zu genießen, auf dem ich vor zwei Jahren leiden musste. "Bleibe ruhig und geduldig!" sage ich mir, "Vertraue deiner Stärke! Teile die Kräfte klug ein!" Noch einige Kurven bergab, dann laufen wir bei Drummond über die Halfway-Marke: 4.49 Std., 10 Minuten schneller als geplant. Bei konstantem Tempo hätte ich nun einen Puffer von 1.20 Std. für die zweite Hälfte. Mir geht es noch immer gut. Ich bin überzeugt, in der Sollzeit zu finishen und fürchte mich nicht vor der zweiten Hälfte. Laute Rockmusik kündigt den großen Verpflegungsstand an. Die Zuschauer stehen dicht gedrängt und rocken die Läufer.
Vor uns liegt der Vierte der „Big Five“: Inchanga, einer der schwersten Anstiege, für mich aber auch der schönste Abschnitt. Wie ein Lindwurm schlängelt sich eine scheinbar unendliche Läuferkarawane den Anstieg hinauf. Viele Läufer gehen. Mein komfortables Tempo kann mir jedoch wenig anhaben. Ich ziehe an vielen Läufern vorbei, die ihre Kräfte weniger gut eingeteilt haben, und arbeite mich langsam durch das Feld nach vorne. I feel strong and I will do it!
Das Fest nähert sich dem Höhepunkt. Es rockt! Es geht weiter auf und ab über ungezählte Hügel, aber nur wenige Zuschauer sind jetzt an der Strecke. Wir laufen durch dünn besiedeltes Wohngebiet der Schwarzen. Ab und zu stehen Kinder an der Straße und betrachten uns eher belustigt und neugierig. Die Sonne steigt immer höher. Die Temperatur schätze ich auf 25 Grad im Schatten, den es aber nicht gibt, und ich habe noch 4 bis 5 Stunden vor mir. Die Strecke ist jetzt eher öde. Hier setzte vor 2 Jahren meine große Krise ein. Heute ist alles im grünen Bereich. Endlich kommt wieder eine Ortschaft: Escom. Dann geht es in der Hitze weiter auf und ab durch die Öde: Harrison Flat, Cato Ridge, Camperdown, Umlaas Road, Lion Park, nur noch 15 km! Ashburton, Tumble Inn und noch 12 km, aber die haben es in sich! 
Vor mir liegt, der Mpusheni, ein bissiger Anstieg von ca. 1 km, auch als „Little Polly“ bezeichnet, Bote des berüchtigten Killers “Polly Shortts“. In meinem Bereich nehmen alle den Anstieg gehend. Vor 2 Jahren habe ich hier auch nur gehen können. Jetzt kann ich angreifen und laufe langsam in das Mittelfeld vor. Ich will Genugtuung für das Leiden, das ich vor 2 Jahren aushalten musste. Heute ist mein Tag! Langsam, geradezu genüsslich, erklimme ich Polly Shortts, den fünften und letzten der „Big Five“. Hier stehen die meisten Fernsehkameras der ganztägigen Life-Übertragung, denn hier entscheidet sich alles. Hier rockt SA!

Ich weiß, was in den anderen vorgeht, weiß, wie unendlich lang die letzten Kilometer sein können und wie die Zeit gefressen wird. Welche Schmerzen eine Folter über die Strecke von 2 km bereiten kann, lässt sich hier erfahren. Für mich ist das Vergangenheit. Es tut mir Leid für euch, die ihr leiden müsst, ich muss weiter. Dann ist auch endlich Mkondeni erreicht, der letzte Gipfel. 
Noch einmal eine kurze Verpflegungspause und schon geht es weiter. Gleich hinter der großen Verpflegungsstation erreichen wir „Pietermaritzburg“, das Ortseingangsschild beweist es: Das Paradies ist nahe. Was sind schon 7 km? Ein Klacks, nein ein Triumphzug, auf den ich mich begebe. Ich erhöhe mein Tempo, wohl wissend, dass bis zum Ziel noch einige Anstiege im Weg stehen, die schmerzhaft sein können. Heute brauche ich mir keine Sorgen zu machen. Wenn ich ein Tempo von 6 Min/km halte, werde ich bei 9.50 Std. einlaufen. Das Rechnen funktioniert noch. Ich mache weiter Druck und verzichte auf die letzten Verpflegungsstellen, weil ich sie nicht mehr benötige. Unsere Begleitgruppe wird sicher schon da sein. Haltet die Kameras bereit, ich komme! 
Scottsville Racecourse ist erreicht, hier befindet sich das Ziel, das wir vor- gestern noch besichtigt haben. Bis zur Ziellinie ist noch eine Genußrunde über weichen Rasen durch das dichte Zuschauerspalier zurückzulegen. Nach einer Linkskurve sehe ich auf der rechten Seite das rot-weiß gestreifte Zelt für die „International Runners“ und erkenne unsere Leute, die mir zurufen und winken. Ich winke zurück, strecke die rechte Faust in die Luft und genieße mich. Das Stadion rockt. Ich rocke. Noch eine Rechtskurve, dann sehe ich das Ziel. Adrenalin bis in die Haarspitzen, ein letzter Spurt, Zieleinlauf: 9.49.25 Std.
Heute war das Schwere leicht. Wie schön das Leben sein kann! Ich fühle mich großartig, Glücksgefühle pur! Ein Volunteer hängt mir die Bronzemedaille um: „Congratulation!“ Ein anderer Volunteer überreicht ein Blümchen: „Well done!“ 
Nun noch ein Zielfoto für das Album und dann weiter zur Feier im Zelt. Josef ist bereits da und strahlt. 9:25 Std. ist seine Zeit. Super, Alter! Ein glücklicher Lothar lacht mich an. Im dritten Anlauf ist er mit 8:57 Std. erstmals unter 9 Std. geblieben. Eine großartige Leistung! Wir freuen uns gemeinsam. Nun aber erst einmal Gisela anrufen, die zu Hause im Internet das Rennen verfolgt und mitgebangt hat: "Ich bin da! Alles ist in Ordnung. Es war heute ganz leicht!" 


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