Sonntag, 22. Oktober 2000

Chicago Marathon 2000 - Teilnahme mit dem Zufall in Hauptrollen

Das Jahr 2000 war ein besonderes Jahr. Enttäuschungen und Motivationsproblemen im beruflichen Feld haben zusätzliche Energien für das läuferische Engagement freigesetzt und das Laufen insgesamt beflügelt. Über das Jahr verteilt sah der Plan immerhin eine Teilnahme an 8 Marathons (u.a. in Neuseeland und in Boston) und an 6 Ultras vor, von denen der Comrades in Südafrika und ein 24-Stundenlauf in der Steiermark (Wörschach) absolute Höhepunkte eines Läuferlebens markieren. Tatsächlich geht der Plan auf, was in unserem Läuferdasein eher eine Ausnahme geblieben ist. Ein Start in Chicago war jedoch für das Jahr 2000 weder in der Planung noch im Budget vorgesehen, sondern ist alleine der Verkettung mehrerer Zufälle geschuldet. Immerhin stand Chicago bereits auf unserer Dreamlist.
Im April haben wir nämlich auf der Busfahrt zum Start des Boston Marathons in Hoptington aus Unterhaltungen mitbe- kommen, dass der Chicago Marathon unter Läufern in den USA einen hervorragenden Ruf genießt.
In einer beruflich besuchten Veranstaltung werde ich auf Auktionsportale aufmerksam, die sich gerade zu etablieren beginnen. Zu Hause möchte ich mir selbst ein Bild machen und finde eine Auktion, in der kurzfristig für 2 Teilnehmer eine viertägige Reise inkl. Unterkunft und Transfers zum Chicago Marathon angeboten wird. Da der Termin außerhalb der Schulferien liegt, spreche ich meinen Läufer-Berufs-Kollegen Helmut an, der sofort auf diese leicht verrückte Idee einsteigt. Top, die Wette gilt!
Die Auktion endet eine Woche vor dem Start an einem Wochenende. Gisela und ich nehmen in Schwäbisch Gmünd an einem schweren Lauf über 50 km durch die Schwäbische Alb teil. Helmut übernimmt die Auktion. Wir wollen bis 1.200 Deutsche Mark bieten. Unglaublich, knapp eine Woche vor der Abreise gehört die Reise uns! Die Reiseunterlagen treffen zwei Tage vor der Abreise per Express ein. Das Abenteuer findet eine Fortsetzung!

Über Chicago
Unsere Erwartung zu der Stadt Chicago waren nicht unbedingt positiv und eher mit Vorurteilen besetzt. Das persönliche Bild von Chicago ist geprägt von Gangsterfilmen, die zu Zeiten der Prohibition spielen. Mit Chicago assoziieren wir mafiöse Strukturen, Korruption, Bandenkriege, Ausbeutung, brutaler Kapitalismus, Fleischindus- trie, Blues Musik. Vermutlich gab es das alles und ist wahrscheinlich auch noch nicht vollständig Vergangenheit. Der auch noch heute nicht unbedingt gute Rufe der Stadt ist ein Indiz dafür. In der Realität überrascht uns Chicago jedoch mit einem völlig anderen Auftritt. Wir erleben eine entspannte, multikulturelle Stadt mit medi- teranem Flair, Blumen und Kunst in den Straßen, bedeutenden Museen, großen Grünanlagen. Beeindruckende neue Architektur verbindet sich mit attraktiven Wohnvierteln und historischer Architektur. Wasserkanäle durchziehen die Stadt und brechen Lichtungen in das dicht bebaute Zentrum. Die Lage am Lake Michigan, ein Sportboothafen und eine attraktive Uferpromenade erzeugen maritimes Feeling. Das spätsommerliche Wetter verwöhnt uns mit Temperaturen über 20 Grad.

Wir wohnen außerhalb des Zentrums in der vornehmen Wohngegen der Old Town. Unsere Unterkunft ist ein- fach, aber das Umfeld ist mit vielen kleinen Restaurants, Coffee Shops und Galerien ansprechend. Mit dem Lincoln Park liegt eine große, attraktive Grünanlage vor der Tür. Selbstverständlich drehen wir hier einige Lauf- runden, um unsere Muskulatur zu lockern und Leistungsbereitschaft zu stimulieren. Start und Ziel des Marathons liegen im Zentrum. Bis dort sind es einige Kilometer, die wir mit öffentlichen Verkehrsmitteln über- winden. Wenn es in der Zukunft zu einer Wiederholung des Chicago Marathons kommen sollte, wäre ein Quartier in zentraler Lage vorzuziehen.

Für ein touristisches Programm bleibt nur wenig Zeit. Zum Standardprogramm zählt eine Bootsfahrt über die Kanäle, ebenso das Observatory Deck des Hancock Towers. Im Eingangsbereich des Towers spricht mich jemand an. Es ist Wolfgang, den ich 1991 in einem von Peter Greif organisierten Trainingslager in Rovinj, Kroatien,  kennengelernt habe. 1994 haben wir gemeinsam ein privates Trainingslager in Südtirol organisiert und sind danach in Hamburg gelaufen. Über den Jahrtausendwechsel sind wir uns in Neuseeland beim Hamilton Marathon begegnet, wo Wolfgang eine Marathon-Reisegruppe von Ali Schneider begleitet hat. Nun schneiden sich unsere Wege erneut in Chicago, wo Wolfgang wieder mit Ali Schneider unterwegs ist. Wolfgang muss der Gruppe folgen, die die Besichtigung bereits hinter sich hat. Trotzdem war es schön, dass der Zufall uns zusammengeführt hat. Der Hancock Tower ist mit 344 m schon lange nicht mehr das höchste Gebäude Chicagos, aber die Aussicht vom Besichtigungsdeck ist grandios und wesentlich interessanter als vom Willis Tower (ehemals "Sears Tower"), der mit 442 m (ohne Antennen) das höchste Gebäude der USA und eines der weltweit höchsten Gebäude ist.

Wie eine Pasta-Party zu einem Reinfall werden kann
Am Samstag wollen wir vor der Pasta Party das großartige und weltweit bedeutende Field Museum of Natural History besuchen. Die Länge der Warteschlangen schreckt mich deutlich stärker ab als Helmut. Wir trennen uns und verabreden einen Zeitpunkt für den Besuch der Pasta Party im Hilton, für die wir Tickets zum Preis von 20 $ erstanden haben. Pünktlich finde ich mich zum vereinbarten Zeitpunkt im Hilton ein, wo das Pasta-Dinner um 18:00 Uhr beginnt und nach ca. 1,5 Stunden beendet ist. Bis kurz vor Ende der Veranstaltung warte ich vergeb- lich auf Helmut, den ich als überaus zuverlässig kenne und schätze. Bei Rückkehr im Hotel fragt mich Helmut ein wenig empört, wo ich denn geblieben sei. Dann stellt sich heraus, dass wir uns in unterschiedlichen Hilton Hotels eingefunden haben, von denen es in Chicago drei gibt. Dumm gelaufen!

Race Day
Heute ist frühes Aufstehen angesagt. Um 5:00 Uhr gibt es ein Frühstück im Hotel. Kurz nach 6:00 Uhr holt ein Bus unsere Reisegruppe für den Transfer zum Start ab. Start und Ziel des Marathons liegen im Grant Park auf dem Columbus Drive. Noch ist es dunkel. Die Sonne wird erst kurz nach dem Start aufgehen. Trotz fast 30.000 Startern geht es hier völlig entspannt zu. Nirgendwo gibt es größeres Gedränge. Getränke stehen an vielen Tischen bereit. Fetzige Musik unterhält die Läufer. Mit der Startaufstellung können wir uns Zeit lassen. Feste Startsektoren sind nämlich nicht vorgesehen, sondern lediglich Zonen mit angestrebten Zeiten, in die wir uns erst kurz vor dem Start begeben. Am Morgen ist es noch frisch, weshalb wir die nicht ganz dünne Laufbekleidung wählen. Über den Tag wird es dann sonnig sein mit Temperaturen zwischen 15 und 20 Grad.
Ehe wir unsere Kleiderbeutel mit dem Fotoapparat abgeben und die Startaufstellung beziehen, fotografieren wir uns noch gegenseitig. Dann nehmen wir eine Startposition rela- tiv weit vorne ein, von der wir das Geschehen an der Start- linie zumindest akustisch mitverfolgen können. 
Um 8:00 Uhr fällt der Startschuss. Inzwischen dämmert es bereits. Die Unruhe im Feld setzt sich nach hinten fort. Wir rücken langsam vor und sind in etwa 3 Minuten an der Startlinie. Allmählich nehmen wir Fahrt auf. Ehrgeizige Ziele verfolgen wir nicht, sondern wollen lediglich unter 4 Stunden bleiben. Jeder läuft für sich, weil das in diesem dichten Feld einfacher ist. "Mach's gut! Wir sehen uns im Ziel!" 
Zunächst laufen wir noch eine Schleife durch Downtown, ehe wir nach etwa 7 km den Lincoln Park erreichen. Inzwischen geht auch die Sonne auf und verstärkt die Euphorie der Läufer. Am Lake View East ist der Wende- punkt, ab dem es nach ca. 12 km zurück richtig Downtown geht. Nach fast 21 km biegt die Strecke in Nähe des Sears Tower in westliche Außenbezirke ab. Halbmarathon ist nach 1:53:40 Std. erreicht. Es rollt recht locker bei mir, während wir durch Außenbezirke laufen, die ich als Fußgänger sonst meiden würde. Die Stimmung an der Strecke ist gut. Eine mexikanische Kapelle verbreitet eine besonders ausgelassene Stimmung. 

Nachdem China Town passiert ist, führt die Strecke durch Industrie- und Gewerbegebiet südlich der Innenstadt. Hier gibt es keine Zuschauer, deren Unterstützung wir gerade jetzt nach 35 km brauchen könnten. Über die schier unendliche, schnurgerade South Michegan Ave quälen wir uns mehrere km in Richtung Downtown. Nach 26 Meilen erreichen wir endlich die Roosevelt Rd von der wir wenig später auf den Columbus Dr ab- biegen. Die Geräuschkulisse des Zielbereichs ist schon lange wahrzunehmen, jetzt sehe ich das Ziel nur ca. 200 m vor mir. Auf leichtem Gefälle sprinte ich dem Ziel leichtfüßig, ohne jede Spur von Erschöpfungsgefühl entgegen. Mit 3:45:00 überquere ich die Ziellinie und war demnach auf der zweiten Hälfte fast 3 Minuten schneller. Am Ende bedeutet das Platz 6.169 von 27.910 Finishern. Das kann sich sehen lassen. Mit vielen "Congratulations" und "well done" Anerkennungen empfange ich meine Medaille und strebe zum Ausgang.

Mit Helmut habe ich vereinbart, dass wir uns in der Nähe unserer Gepäckausgabe aufhalten, um uns dort zu treffen. Es klappt tatsächlich. Hemut ist mit 3:58:23 Std. auch noch unter 4 Stunden geblieben und strahlt nun glücklich. Unterwegs hatte er einige Krisen zu überstehen und hat daher auf der zweiten Hälfte 10 Minuten verloren. Eine Weile halten wir uns noch auf der Tribüne auf, um den Zieleinlauf mitzuerleben. Für uns ist bereits klar, dass wir im nächsten Jahr wieder hier antreten wollen. Da der Termin in die Herbstferien fällt, könnte Gisela dabei sein.

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