Freitag, 12. Juni 1998

Ultra Europacup 1998/99 - 100 km durch die Nacht von Biel (Update 15.02.2018)

Zieleinlauf kurz vor 8 Uhr nach 100 km

Meine Premiere über 100 km möchte ich mit dem legendären Nachtlauf von Biel feiern. Ein Lauf über 100 km ist für jeden Neuling ein unbekanntes Abenteuer mit ungewissem Ausgang. Vorweisen kann ich lediglich Ultra-Erfahrungen aus zwei Rennsteigläufen über 66,5 km. Immerhin habe ich bis Biel 17 Marathons gefinisht, einige davon auf anspruchsvollen Strecken in der Eifel (Monschau und Rursee) oder im Harz (Brocken-Marathon). Seit den Rennsteigläufen habe ich großen Respekt vor Ultradistanzen und weiß, dass eine Marathonvorbereitung nicht ausreichen wird, wenn ich eine Endzeit unter 10 Stunden erreichen möchte.
Viele wertvolle Hintergrundinformation bietet die Webseite von Stafan Job. 



Vorbereitungsphase
Mit dem ehrgeizigen Ziel, die Grenze von 10 Stunden zu unterbieten, muss ich bei meiner geringen Grundschnelligkeit den ohnehin hohen Trainungsumfang noch einmal steigern. Als weitere Vorbereitungsmaßnahme erhöhe ich den Anteil der langen Läufe und dehne ihren Umfang sukzessive auf bis zu 60 km aus. Dass ich mit diesem Konzept auf einem guten Kurs liege, zeigen zwei Marathonläufe, in denen ich aus der Vorbereitung heraus jeweils meinen persönlichen Streckenrekord verbessern kann. Das Ergebnis des Königsforst-Marathons kommt Ende März mit einer Steigerung um 8 Minuten auf die Endzeit von 3:23 Std. für mich überraschend. In Duisburg hoffe ich im Mai noch einmal auf eine deutliche Steigerung. Ich kann mich aber nur um 3 Minuten verbessern und muss mich mit der Endzeit von 3:18 Std. zufrieden geben. Für eine Distanz über 100 km liegt damit theoretisch eine Endzeit unter 10 Stunden im Bereich des Möglichen. Bei realistischer Betrachtung sind jedoch die Erfolgsaussicht nicht besonders groß. Neben der fehlenden Erfahrung auf dieser Distanz ist der Einfluss eines Nachtlaufs zu bedenken, der mit hoher Wahrscheinlichkeit leistungsmindernd wirkt. Wie mein Körper auf diese absolut unbekannte Belastung reagieren wird, ist völlig offen. Wenn ich überhaupt eine Chance habe, verspricht es eng zu werden. Ich will es jedoch versuchen und brauche unter diesen Voraussetzungen eine kluge Taktik. Ob und wie diese sich bewährt, kann erst der Rennverlauf zeigen.

Vor dem Start
Die Reise nach Biel unternehme ich zusammen mit Gisela. Gisela startet nicht in Biel, weil sie die Distanz und die Umstände des Nachtlaufs fürchtet. Aber sie ist bereit, mich zu begleiten, um mir emotionalen Rückhalt zu bieten. Der Start an einem Freitag um 22:00 Uhr hätte auch eine Anreise am Starttag erlaubt. Um ausgeruht und entspannt starten zu können, ziehen wir die Anreise am Donnerstag vor. Mit den gleichen Überlegungen entscheiden wir uns für das komfortable Hotel Elite am Rande der Innenstadt von Biel und nur einen kurzen Fußweg vom Bieler See entfernt.





Am Donnerstag holen wir die Startunterlagen ab und erhalten mit den Unterlagen Freifahrtscheine, die wir im öffentliche Nahverkehrssystem über das Wochenende nutzen. Den nächsten Morgen beginnen wir mit einem entspannten Lauf von 30-40 Minuten am Bieler See. Umso besser schmeckt das exzellente Frühstück im Hotel. Wie oft in der Schweiz sind wir von der Qualität des Brotes begeistert. Irritiert sind wir von sprachlichen deutsch-schweizer Eigenheiten wie z.B. 'grillieren' (grillen), 'parkieren' (parken), 'campieren' (zelten) oder 'Rangverkündigung' (Siegerehrung).
Nach dem Frühstück bringt uns die Funiculaire du Macolin für einen Spaziergang nach Magglingen. Ein Mittagsschlaf gelingt anschließend nicht. Die Anspannung ist zu groß.



Am Nachmittag fahren wir zum Eisstadion, obwohl der Start erst um 22:00 Uhr erfolgt. Im Zelt treffen wir Ingeborg und Helmut Urbach (KStA: Lauflegende Helmut Urbach) 7x hat Helmut Biel gewonnen und ist bis 2016 insgesamt 33x mal in Biel gelaufen (Kölnische Rundschau). Biel ist für Helmut ein jährlicher Fixpunkt und war es ebenso für Ingeborg, bis sie 2013 verstorben ist. (Ingeborg läuft nicht mehr)
Während ich mir einige Stunden vor dem Start noch eine Portion Nudeln und einen Saft gönne, verblüffen uns alte Haudegen, die sich eine Stunde vor dem Start ein Grillhähnchen mit Pommes einverleiben und mit einem Bier nachspülen. Undenkbar für mich. Vermutlich handelt es sich um Marschierer, die sehr lange unterwegs sein werden und darum vielleicht so etwas wie eine Henkersmahlzeit einnehmen. 
Die Uhr rückt langsam in Richtung Startzeit vor. Gegen 21:30 Uhr gehe ich zur Startaufstellung in meinen Block im Mittelfeld. Gisela wird den Start abwarten und fährt dann zurück zum Hotel. Wir haben vereinbart, dass sie die Nacht im Hotel verbringt und erst ab ca. 7:00 Uhr zurück zum Zielbereich kommen wird. Inzwischen ist es dunkel. Gleicht beginnt die Reise in das Abenteuer der Nacht von Biel. Die Taschen meines Laufhemdes und eine Gürteltasche enthalten die Utensilien meiner Reise: Taschentücher, Pflaster, Handschuhe, Taschenlampe, einen Notgroschen und ein Tütchen mit portionierten Power Bar Riegeln.

Streckenplan 2011, der mit dem Streckenverlauf von 1998 vor allem im Endabschnitt nicht exakt übereinstimmt
Start und Strecke bis Kirchberg (55-56 km)
Um Punkt 22:00 Uhr erfolgt für mehr als 2.000 Teilnehmer aus aller Welt der Start des 40. Nachtlaufs von Biel über 100 km. Dass eine Laufveranstaltung über 100 km eine so große Teilnehmermenge anziehen könnte, war für mich bis dahin unvorstellbar. 1/2 Jahr habe ich mich auf diesen Tag vorbereitet. Meine Premiere über 100 km habe ich mir in der langen Vorbereitungsphase als ein schönes Fest vorgestellt. Und so beginnt es auch.

Zunächst laufen wir eine Schleife durch die Innenstadt von Biel und genießen den Applaus vieler Zuschauer. Mein Lauftempo möchte ich auf 5:30 - 5:45 min/km einstellen. Das richtige Tempo zu finden, fällt anfangs bei soviel innerer und äußerer Begeisterung schwer. Nachdem wir Biel verlassen haben, ist die Strecke zunächst mit Fackeln beleuchtet. Das Läuferfeld wird langsam ruhiger und sortiert sich. Absolute Höhepunkte auf dem ersten Streckenabschnitt sind die Durchquerung des großen Festzeltes eines Dorffestes und der Lauf über die Holzbrücke von Aarberg. Nach den frenetischen Anfeuerungen in diesen Passagen kehrt erst langsam wieder eine gelassene Ruhe zurück. Das klare und nicht zu kühle Wetter ist angenehm und die Sichtbedingungen sind ebenfalls gut. Kritische Punkte sind beleuchtet und von Ordnern betreut.

Nach 38 km kommen wir nach Oberramsern, wo im Bereich der großen Verpflegungsstelle eine Zeitnahme stattfindet und ein regulärer Ausstieg mit Teilstreckenwertung möglich wäre. Mit meiner Zwischenzeit von glatt 3:33 Std. ist mein Durchschnittstempo von 5:36 min/km genau so, wie ich mir das vorgenommen habe. Hier liege ich auf Platz 352 der 1.637 männlichen Finisher. Bisher war der Lauf purer Spaß.

Inzwischen zeigt sich die Strecke wesentlich profilierter als ich es geahnt habe. Mit profilierten Strecken hätte ich kein grundsätzliches Problem, wenn bei dem unrhythmischen Auf und Ab keine Zeit verloren würde. Einige Läufer und Läufergruppen nehmen die Anstiege gehend. Das sei ihnen zugestanden, aber etwas mehr Rücksichtnahme auf überholende Läufer sollte zumutbar sein. Viele Teilnehmer werden von Radfahrern begleitet, was unter Beachtung einiger Bedingungen offiziell zugelassen ist, aber auch durchaus störend sein kann. Immer wieder verliere ich meinen Rhythmus, weil mir Radfahrer in die Quere kommen oder mich blenden. Erste Anzeichen von Schwäche stellen sich zusätzlich ein. Das Tempo des ersten Drittels kann ich nicht mehr halten und laufe jetzt eher im Bereich von 6 min/km. Mein Ziel von sub 10 Stunden beginnt zu entschwinden. Die Gedanken an das Ziel stelle ich erst einmal zurück. Ohnehin ist es psychologisch günstiger, nur abschnittsweise vorauszudenken. Jetzt kommen wir erst einmal nach Kirchberg, dem zweiten Punkt der Teilstreckenwertung nach 55,5 km.

Fast unglaublich, welcher Trubel hier in der Nacht herrscht. 5:28:44 Std. habe ich bisher gebraucht und liege nun auf Platz 299/1.637. Das entspricht noch immer einer Durchschnittsgeschwindigkeit von 5:54 Std und würde rechnerisch reichen, um unter 10 Stunden zu bleiben. Ich mache mir nichts vor. Zur Zeit verbrauche ich mein Zeitpolster aus dem ersten Drittel der Strecke und erkenne nicht, wie ich mich dagegen wehren könnte, zumal gleich der gefürchtete und von Läufern als Ho-Chi-Minh-Pfad bezeichnete Emmendamm-Abschnitt kommt. Am Versorgungspunkt Kirchberg verpflege ich mich erst einmal ausgiebig und streife nun auch die Handschuhe über. Inzwischen ist es nämlich kühl geworden. Die Temperatur sinkt bis auf ca. 5 Grad ab.

Strecke ab Kirchberg bis zum Ziel
Kaum ist der Versorgungspunkt verlassen, biegt die Strecke auf den Emmendamm ab, ein Hohlweg, der so dicht überwachsen ist, dass in der Nacht kein Lichtstrahl hineinfällt und sich das Gefühl einstellt, in einem stockfinsteren Tunnel zu laufen. Hier sind auch keine Radfahrer zugelassen, die vorher zur Ausleuchtung der Strecke beigetragen haben. Ich bin jedoch darauf vorbereitet und krame meine Taschenlampe aus der Gürteltasche. Erstaunlicherweise muss ich feststellen, dass nur wenige Läufer eine Lampe mitführen und die meisten darauf spekulieren, sich an einen mit Lampe ausgestatten Läufer zu hängen. Sportlich ist das so fair wie das als 'Lutschen' bezeichnete Windschattenfahren bei Radfahrern. Es würde mir nicht schwer fallen, diese Einstellung zu ignorieren, wenn ich nicht bald einen ganzen Läuferpulk hautnah im Rücken hätte, aus dem dann auch noch geschimpft wird, wenn ich unrhythmisch laufe. Auf einer Strecke von fast 12 km möchte ich mir das nicht antun. Am Verpflegungspunkt bei Utzendorf bleibe ich stehen und schalte meine Lampe ab. Den Lutschern bleibt nichts anderes übrig, als sich ein anderes Opfer zu suchen. Erst als sie abgezogen sind laufe ich weiter.

Von Laufen lässt sich kaum noch sprechen. Vorsichtig tastend stolpere ich über den holprigen Pfad, den Wurzel, Steine und Schotter unsicher machen. Im engen Lichtkegel meiner Lampe zu laufen, wird mir zunehmend unangenehm. Der Gedanke an weitere Zeiteinzubußen drückt zusätzlich auf meine Stimmung. Offensichtlich hat sich eine schwere Krise etabliert. Damit mußte ich rechnen. Solange mich meine Beine tragen ist Weiterlaufen die einzige akzeptable Option. Notfalls muss ich wandern, aber so weit bin ich noch nicht. "Warmduscher, Weichei, Aufschneider" geht mir durch den Kopf. "Du willst ein Ultraläufer sein? Peinlich! Lächerlich! Mit deiner Wehleidigkeit wirst du nie ein Ultraläufer werden, du Witzfigur!" Mit kritischer Selbstbeobachtung versuche ich, das Aufkommen von möglicherweise noch wesentlich destruktiveren Gedanken zu unterdrücken, die mir vielleicht erklären könnten, wie weise es wäre, den Signalen von Körper und Geist zu folgen, um am nächsten Punkt auszusteigen. "Es war doch schon vorher klar, dass Krisen auftreten werden. Du bist gut vorbereitet, du kannst es. Reiß dich endlich zusammen!"

Die Selbstkasteiung findet kurz vor Gerlafingen ihr Ende. Die Route verlässt den Emmendamm und damit den dichten Wald. Unmittelbar darauf erreiche ich nach einer endlos scheinenden Wüste grausamer Trostlosigkeit in der ersten Morgendämmerung die Oase des Verpflegungspunktes bei 67 km. Ich wage kaum, auf die Uhr zu schauen. Fast 7 Stunden sind bereits verstrichen und 33 km liegen noch vor mir. Es ist jetzt ausgeschlossen, noch unter 10 Stunden zu bleiben. Meinem Schicksal möchte ich mich jedoch nicht einfach ergeben. Es mag noch so schwer sein, ich will kämpfen und mir sagen können, alles gegeben zu haben. Nur mit dieser Haltung gelingt es mir, überhaupt weiterzumachen. Der nächste Abschnitt ist nämlich auch kein Kindergeburtstag. Über etwa 10 km geht es jetzt bis Gössliwil mehr oder weniger bergauf.

Der lange Anstieg nach Gössliwil ist kilometerweit einzusehen. Vor mir sehe ich etliche Läufer allein oder in kleinen Gruppen, mit oder ohne Fahrradbegleitung. Einige von ihnen gehen. Andere wechseln zwischen Laufen und Gehen. Die Beine spüre ich kaum noch, aber sie tragen mich noch und ich befinde mich noch immer im Laufschritt. Langsam steigt auch die Sonne auf. Ich nehme Vogelstimmen wahr. Bin ich gemeint? Bestimmt wollen sie mir Mut machen. Neues Leben erwacht und auch ich lebe noch immer. Nach und nach kommen mir immer mehr Läufer entgegen (d.h. ich überhole vor mir liegende Läufer). Einige kenne ich bereits. Sie haben mich vor Stunden überholt oder auf dem Emmendamm gequält. Ihnen scheint es jetzt deutlich schlechter zu gehen als mir. "Sorry, Kameraden, macht Platz für den Champion." Je mehr Läufer ich überhole, desto besser geht es mir. Ich erreiche die letzte große Versorgungstation bei Gössliwil, bei der noch einmal ein reguärer Ausstieg mit Teilstreckenwertung möglich wäre. Dieser Gedanke kommt gar nicht erst auf. Ich habe Startgeld für die ganze Runde gezahlt und möchte nun auch die ganze Runde zu Ende bringen.

Bis ca. 78 km habe ich 7:55:02 Std. benötigt, was einem Durchschnittstempo von 6:08 min/km entspricht. Ich liege jetzt auf Position 281/1.637. Noch 22 km bis zum Ziel, die ich unter 2:05 Std. laufen müsste, um die 10 Stunden zu unterbieten. Völlig unmöglich scheint mir das jetzt nicht mehr zu sein. Mehrfach rechne ich meine Chancen durch, um nur keinen Fehler zu übersehen. Eine kleine Wahrscheinlichkeit ist gegeben. Ich will es versuchen. An der Verpflegungsstelle versorge ich mich nur kurz. Die angebotene heiße Brühe könnte mich durchaus reizen, aber ich habe keine Zeit. Brühe kann es später immer noch geben, eine verpasste Zeit ist nicht mehr einzuholen. Auf der Bergabpassage schmerzen die Oberschenkel höllisch. Auch darauf kann ich jetzt keine Rücksicht nehmen. Bald wird es auch flacher. An den nächsten Verpflegungspunkten greife ich jeweils nur 2 Becher Cola, ohne stehen zu bleiben. Inzwischen gelingt es mir sogar, Druck zu machen. Von Kilometer zu Kilometer werde ich schneller. Jetzt bewährt sich mein Trainigsfleiß, für den ich zu Hause einigen Spott und Zweifel ertragen musste.

10 km vor dem Ziel bin ich mir sicher, unter 10 Stunden zu bleiben, wenn ich nicht explodiere. Ich presse jetzt die letzten Reserven heraus. Den letzten Verpflegungspunkt 3 km vor dem Ziel lasse ich aus, um keine Zeit zu verlieren. Das Eisstadion kommt in Sicht. Auf den mit Fahnen geschmückten letzten Kilometern fliege ich über die Strecke dem Stadion entgegen. Zuschauer an der Strecke rufen mir den Abstand bis zum Ziel und meinen aktuellen Platz zu. Sie muntern mich noch einmal auf, was jedoch gar nicht nötig wäre. Es gibt keinen Schmerz. Meine Beine sind phantastisch. Alles wird leicht, obwohl ich am Anschlag bin. Ich höre bereits den Moderator und den Applaus der Zuschauer der vor mir einlaufenden Teilnehmern gilt. Meine Mütze nehme ich ab. Ich muss mich nicht verbergen. Dann höre ich meinen Namen und den Applaus, der jetzt mir gilt. Im Ziel sehe ich eine Person in einem roten Anorak. Es ist Gisela, die mir zuwinkt, nachdem sie natürlich bereits seit Stunden frierend im Ziel gewartet hat. Schlafen konnte sie nicht, weshalb sie im Morgengrauen zum Stadion gefahren ist. Angekommen!

Nach Überlaufen der Ziellinie zeigt die Zeit 9:49:50 Std. Unglaubliches hat sich ereignet. Ich fühle mich als mythischer Phönix, der aus seiner Asche aufgestiegen ist. Emotional bin ich in einer Weise bewegt, wie ich es noch bei keinem Lauf erlebt habe. Eine unvergessliche Nacht habe ich in einer Intensität erlebt, die sich in Worten nicht beschreiben lässt. Die aufgenommene Energie einer halbjähriger Vorbereitung hat sich in weniger als 10 Stunden kontrolliert entladen und zugleich den Nachtlauf von Biel zu einem der sehr seltenen Hauptgewinne des Lebens transformiert. Alles richtig gemacht. Alles ist gut!


Nach dem Lauf
Im Zielbereich halten wir uns nur noch kurz auf. Wir fahren zurück zum Hotel und tauschen uns bei einem ausgiebigen Frühstück über die Ereignisse der letzten Nacht aus. Erst danach lege ich mich in die Badewanne, um wieder locker zu werden. Das gelingt nicht wirklich, denn ein gewaltiger Muskelkater kündigt sich bereits an. Ein wenig zu schlafen gelingt ebenfalls nicht. Dafür sind wir viel zu aufgedreht. Wir fahren zurück zum Zielbereich, legen uns auf den Rasen in die Sonne und warten auf ankommende Läufer, deren Leistung wir mit unserem Applaus und aufmunternden Worten Ehre erweisen. Am Abend gönnen wir uns einen Besuch in dem exzellenten Restaurant des Hotels Elite. Das haben wir uns verdient!






Nachbetrachtung
Am Ende erreiche ich Platz 264/1.637 in der Männerwertung bzw. 272/1.838 in der Gesamtwertung und bin jetzt als Läufer der Klasse "Elite 1" eingeordnet. Bei meiner nächsten Teilnahme dürfte ich im ersten Block starten, der der "Elite 1" vorbehalten ist. Einen weiteren Start wird es jedoch nicht geben. Dieser Hunderter von Biel sollte bis heute mein einziger Hunderter bleiben, was jedoch zum damaligen Zeitpunkt nicht beabsichtigt oder absehbar war. Die unglaublich intensiven Erfahrungen und Emotionen möchte ich mit weiteren Starts in den Folgejahren nicht mehr verwässern, zumal ich auf Anhieb mein Traumergebnis erreichen konnte und bereits neue Herausforderungen zu erkennen waren, die spannende Erfahrungen versprachen. Eine Ausnahme hätte ich gemacht, um noch einmal gemeinsam mit Gisela zu laufen, die jedoch ihre Furcht vor möglichen Schmerzen nicht überwinden konnte. 

Über den Nachtlauf von Biel
Seit 1959 wird diese Veranstaltung über 100 km alljährlich im Juni mit der Startzeit von 22:00 Uhr als Nachtlauf ausgetragen. Begonnen hat diese Veranstaltung als ein Militärmarsch, was die Sollzeit von 22 Stunden erklärt. Bald haben jedoch auch Läufer diese Veranstaltung entdeckt, die mit ihrer relativ komfortablen Sollzeit auch so manche Neulinge auf diese Strecke lockt. Seit dem Jahr 1968 sind alljährlich mehr als 1.000 Finisher zu verzeichnen. Nach den teilnehmerstarken 80er Jahren mit mehr als 3.000 Finishern sind in den 90er Jahren die Teilnehmerzahlen kontinuierlich zurückgegangen und haben sich inzwischen bei durchschnittlich ca. 1.500 Finishern eingependelt. Der Nachtlauf von Biel hat sich damit nicht nur als der weltweit bedeutendste regelmäßig veranstaltete Lauf über 100 km etabliert, sondern in der Ultrawelt einen geradezu legendären Ruf als Mythos erworben. Das erklärt den hohen Anteil an Mehrfachteilnehmern.

Anders als bei vielen anderen Ultraläufen wird nur eine große Runde über 100 km zurückgelegt. Start und Ziel befinden sich traditionell am Eisstadion von Biel. 100 km Strecke zu organisieren und ca. 1.500 Läufer über 22 Stunden zu versorgen, bedingt natürlich eine sehr aufwändige Organisation. Diese zeigt sich in der Realität allen Anforderungen gewachsen und ist perfekt eingespielt.

Der Nachtlauf von Biel produziert zahllose Geschichten und Legenden, die überwiegend eher in der privaten Sphäre bleiben. Aber auch die veröffentlichten Berichte, Bücher, Filme etc. wachsen ständig. Zwei deutsche Teilnehmer sind als herausragende Helden in die Geschichte dieses Laufs eingegangen:
  • Der Kölner Läufer Helmut Urbach, ein Urgestein und Pionier der Ultraszene, ist neben vielen anderen Erfolgen im Zeitraum 1967 - 1980 siebenfacher Sieger von Biel, wobei er insgesamt viermal den Streckenrekord verbessert hat und mehrmals unter den magischen 7 Stunden bleiben konnte.
  • Vergleichbar erfolgreich ist die Siegburgerin Birgit Lennartz mit ebenfalls sieben Siegen im Zeitraum 1988 - 1997. Ihre Bestzeit von 7:37 Std. aus dem Jahr 1997 ist noch immer aktueller Streckenrekord. (Erwähnung verdienen neben vielen anderen Erfolgen insbesonderes Birgits 10 Siege auf dem Swiss Alpin, 8 Siege auf dem Rennsteig, ihr Sieg beim Comrades 1999 sowie ihr Weltrekord von 1990 in 7:18 Std. über 100 km!)

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